Kultur

Jenseits der Leere

von ohne Autor · 6. Juli 2012

Manchmal liegen der Knast und das Landleben gar nicht so weit auseinander: Emotional beschädigte Menschen landen in einer übermächtigen Sackgasse. In dem leisen Drama „Töte mich“ machen sich zwei extreme Charaktere aus beiden Welten auf zum großen Sprung.

Tag für Tag schuftet Adele im elterlichen Kuhstall. Bevor die 15-Jährige halbtot ins Bett fällt, warten die Hausaufgaben – und am nächsten Morgen wieder die Kühe. Nicht, dass sie erwarten würde, dafür von den scheintoten Eltern gelobt zu werden. Wohl aber etwas Zuneigung: Doch mit Adeles verunglücktem Bruder haben Mutter und Vater auch ihre Gefühle begraben. Schuldgefühle nagen an der Tochter. Pflichterfüllung ist das einzige, was die drei noch verbindet.

Die Berliner Regisseurin Emily Atef („Das Fremde in mir“) übersetzt die emotionale Deformierung dieser Familie mit einer latent aggressiven Wurstigkeit des Ambientes: Das Abendessen wird mürrisch schweigend hinuntergeschlungen, steif verharrend an der Wachstuchdeckenkante in einer dieser blass-beigen Einbauküchen, wie wir sie aus der Spülmittel-Werbung der 70er-Jahre kennen. Es ist zum Davonlaufen. Doch Adele plant weit darüber hinaus: Sie will ganz Schluss machen.

Der allerletzte Schritt

Um endlich den allerletzten Schritt zu gehen, platzt eines Tages der bestanzunehmende Kompagnon ins Bauernhaus. Timo verbrachte acht Jahre im Knast. Nun ist er auf der Flucht und zwingt Adele, ihn zu verstecken, bevor er sich über die Grenze stiehlt. Die zieht mit, allerdings zu ihren Bedingungen: Timo soll sie irgendwo in den Abgrund befördern, ansonsten verpfeift sie den 43-Jährigen bei der Polizei. Das lässt sogar einen verurteilten Mörder stutzen. Und doch willigt Timo zähneknirschend ein. Mit dem sonderbaren Teenager an seiner Seite schlägt er sich bis nach Marseille durch. Danach wartet ein neues Leben in Afrika auf ihn.

Lange verfolgen einen zwei Fragen, während Adele und Timo schweigsam durch die Wälder streunen. Warum tut sie es nicht einfach selbst, wenn er sie immer wieder hinhält? Und warum beseitigt Timo seine Begleiterin nicht einfach in dem Moment, wo er sie nicht mehr braucht? Die Antworten darauf sich zeichnen umso stärker ab, je mehr die Figuren von sich preisgeben. Die Erwartungen laufen ins Leere.

Zärtlicher Berserker

Anfangs wehrt sich Timo dagegen, doch mit der Zeit beginnt er, natürlich verbunden mit all den Unsicherheiten seiner frischen Knasterfahrung, für Adele zu sorgen. Dabei kann er ziemlich rabiat werden: Als Adele kein Wasser trinken will, stößt er sie in einen kleinen Bach und zwingt sie dazu. Das Eis scheint gebrochen: Indem sich Timo öffnet, kehrt auch das Mädchen zurück ins Leben – und umgekehrt.

Doch Timo bleibt ein unsteter Geist: Immer wieder verwandelt er sich in ein misstrauisches Tier, das seine Aggressionen kaum beherrscht: Die Demütigungen der Gefängnishierarchie und in seinem Elternhaus wirken lange nach.

Die Belastungen seiner Jugend kommen wieder auf den Tisch, als er bei seinem Bruder in Marseille einsteigt, um ihm Geld abzupressen. Diese Szene erklärt vieles: Zwischen den Brüdern steht eine große Schuld, die einen von ihnen hinter Gitter brachte. Wer angesichts des nunmehrigen Gewaltausbruch denkt, dass Adeles und Timos Plan, neu anzufangen, scheitern muss, liegt allerdings ein weiteres Mal falsch.

Diese Erzählung entwickelt sich erstaunlich behäbig, anstatt sich in exzessiven Konflikten zu ergehen. Atef erzeugt vor allem dadurch Spannung, indem sie die Reibungsflächen innerhalb dieser Schicksalsgemeinschaft betont, ohne die Kontrahenten ihr ganzes Pulver verschießen zu lassen. Gleichzeitig haben auch die Gemeinsamkeiten ihren Platz: Die Flucht aus dem Gefängnis, zu dem ihr Dasein, wenn auch auf verschiedene Weise, geronnen ist, eint Timo und Adele. Ebenso die zerbrechliche Psyche hinter der ruppig-kargen Fassade.

Legendärer Fieberblick

Roeland Wiesnekker ist die ideale Besetzung für den gleichsam verschlagenen wie tapsigen und wortkargen Brummbären Timo. Dieses sensible wie zu allem fähig scheinende Gespenst erinnert mit Pausbacken und Fieberblick an den legendären Wolfgang Kieling in seinen Schurkenrollen. Timos Charakter verdient allerdings eine weitaus differenziertere Betrachtung.

Diese eindringliche Wirkung ist nicht zuletzt dem Kontrast mit Maria Dragus als Adele zu verdanken. Sie wird zu so etwas wie einem Korrektiv für den hitzigen Timo. Gerade die bisweilen verinnerlichte Kargheit, die sie überwinden will, zeigt Einflüsse von Michael Hanekes Gefühlsverweigerungs-Drama „Das weiße Band“: Dragus spielte darin die drangsalierte Tochter eines sittenstrengen Pastors. Nicht etwa, dass die Parallelen zu „Töte mich“ überdeutlich sind, zumal der Film auf dem Theaterstück „Roberto Zucco“ von Bernard-Marie Koltès basiert.

Doch hat der Gedanke, dass Adele das schafft, woran, die späteren Nazis aus Hanekes Film-Dorf in ihrer Jugend scheitern, seinen Reiz. Unter denkbar schlechten Voraussetzungen starten zwei Erniedrigte in ein neues Leben, anstatt an ihrem Leid kaputt zu gehen oder es gar an anderen auszulassen. Niederschmetternd beginnt dieser Film, doch sein Ende wiegt manche Hypothek auf.

 

Info: „Töte mich“ (Deutschland, Frankreich, Schweiz 2011), Regie: Emily Atef, mit Maria Dragus, Roeland Wiesnekker, Wolfram Koch, Christine Citti, Anne Bennent, Robert Hunger-Bühler u.a., 91 Minuten. Ab sofort im Kino

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