Die Kernaussage Ihres Films lautet, alle Schauspieler, alle Menschen seien behindert. Hat dieses Credo genügt, um die Berührungsängste zwischen den Darstellern mit und ohne sichtbare Defekte abzubauen?
Meine Aufgabe war es, die äußerlich nicht behinderten Schauspieler dahin zu führen, die Berührungsängste gegenüber ihrer individuellen Behinderung abzubauen, um sich dem Niveau der behinderten Kollegen zu nähern. Wenn Du als nicht behinderter Schauspieler neben einem Schauspieler mit Down-Syndrom sitzt, kannst Du Dein Handwerk vergessen. Die Kraft der Gegenwart ist so stark. Als sie ihre eigenen Macken erkannt hatten, ging es. Aber auch die Behinderten untereinander hatten Berührungsängste, etwa ein Spastiker gegenüber einem Blinden. Insofern sind wir alle behindert. Jeder fürchtet die Nähe zu Behinderten.
Einige lange Einstellungen, in denen die 14 Darsteller auf ihren Auftritt in einer Castingshow warten, haben etwas Selbstzerfleischendes. Man fühlt sich an Fassbinder erinnert, mit dem Sie zu Beginn Ihrer Karriere als Produktionsassistent gearbeitet haben.
Ich bin kein Menschenzerstörer wie Fassbinder. Ich arbeite psychologisch mit Schauspielern, weil ich sie in ihrer Ehrlichkeit fördern möchte.
Ist die Castingsituation nicht stark überzeichnet? Wann sieht man schon Behinderte in solchen Shows?
Meine Idee war: 100 000 Leute kommen zu einer Castingshow. Die behinderten Teilnehmer werden aus „hygienischen Gründen“ in einen speziellen Raum gebracht und dort vergessen. Das ist nicht überzeichnet. Behinderte werden andauernd vergessen oder übersehen.
Andererseits beklagen viele Behinderte, ihnen werde zu viel Aufmerksamkeit zuteil.
Angeglotzt oder speziell behandelt zu werden ist auch eine Ausgrenzung. Die ist auf dem Arbeitsmarkt, nicht nur unter Schauspielern, besonders stark. Dafür steht das Casting. Viele aus dem Ensemble haben durch den Film Angebote bekommen. Leslie, die blinde Sängerin, hat momentan zwei Engagements an den Münchener Kammerspielen.
Einige Protagonisten treffen erstaunliche Selbstaussagen. Christina, die an Muskelschwund leidet, sagt: Meine größte Behinderung ist, dass ich zu viel denke. Hat Sie das überrascht?
Die wirklichen Probleme liegen bei allen Menschen tiefer, als der äußere Anschein vermuten lässt. In der Szene, wo sich die Schauspieler für die Castingshow registrieren lassen, sagen alle, ihr Problem sei nicht ihre Behinderung, sondern etwas anderes. Wir scheinen alle etwas anderes zu sein als wir sind.
Viele Akteure scheinen sich nicht wie Schauspieler gefühlt zu haben. Christina sagt zum Beispiel: „Schauspieler können sich schützen, ich kann das nicht.“
Das denkt sie. Christina ist keine ausgebildete Schauspielerin, hat aber in mehreren Theaterstücken gespielt. Viele denken, wenn Behinderte schauspielern, dann als Laien. Auch ich dachte, es kämen ein paar humpelnde Laien zum echten Casting. Weit gefehlt! Wir hatten viele Profis dabei.
Vor diesem Projekt hatten Sie angekündigt, die „Behindertennische“ verlassen zu wollen. „Alles wird gut“ ist das genaue Gegenteil.
Das ist ein großes Problem für mich. Es ist ein Thema, wo ich mich extrem gut auskenne. Früher habe ich gesagt: Ich mache alles, nur keine „Behindertenfilme“. Deshalb hat es auch so lange gedauert, bis ich den ersten Film mit Behinderten gemacht habe. Es hat sich gezeigt, dass ich das ganz gut kann. Es war auch eine Berührungsangst gegenüber meiner eigenen Behinderung. Nach „Nobody's Perfect“ ist „Alles wird gut“ mein zweiter Film über Menschen mit Behinderung. Den dritten mache ich gerade: „Olympia – der Anfang einer wunderbaren Freundschaft“ geht um die Paralympics in London. Nach dieser Trilogie werde ich etwas ohne sichtbar Behinderte machen.
Ihr Film versammelt harte Schicksale. Woher nehmen Sie die Kraft, zu sagen: Alles wird gut?
Die Schicksale sind nicht hart. Im echten Leben kenne ich einige Menschen mit einem schweren Los. Die Schicksale der Behinderten und Nichtbehinderten sind gleichwertig. Mich hat die Lebensfreude der Darsteller überrascht. Jan lebt mit 35 Jahren im Altersheim. Der Profi-Schauspieler hat bislang weder ein Engagement noch eine Frau gehabt. Das ist scheiße. Trotzdem ist er gut drauf.
„Alles wird gut“: Weil sie an die Menschen glauben? Oder spielt Religion eine Rolle?
Als Buddhist glaube ich zutiefst, dass der Mensch leidet. Es gibt einen Ausweg. Aber nur, indem du durch das Leid hindurchgehst. Die äußerlich behinderten Schauspieler haben keine Wahl: Sie müssen sich diesem Leid stellen. Menschen ohne sichtbare Behinderung müssen das nicht.
Teilen Sie als Contergangeschädigter manche Erfahrungen der Darsteller?
Und wie! Ich habe, so wie Christina, Probleme, mich zu schützen. Je weiter ich meinen Weg als Regisseur gehe, desto weniger Schutzmechanismen habe ich. Zum Beispiel davor, verletzt zu werden. Wenn ich mich öffne, bin ich viel leichter anzugreifen.
Sich öffnen: Denken Sie dabei ans Filme machen oder auch an Zwischenmenschliches?
Als ich bei Fassbinder angefangen habe, waren wir fünf Praktikanten. Nach zwei Wochen waren wir zu zweit. Eines Tages sagte der andere Praktikant zu mir: „Du bist nur noch hier, weil Du behindert bist.“ Das hat mich total getroffen. Doch ich bin geblieben. Das erste Mal begegnete ich dem Fassbinder in den Münchener Bavaria-Studios. Er sah mich am Ende des Ganges und sprach: „Der da hinten ist für die Bierkisten zuständig.“ Er drehte sich um und ging in sein Büro. Hätte ich nicht sechs Wochen lang für „Lola“ Bierkästen geschleppt, wäre ich gefeuert worden. Der Typ war am Ende seines Lebens ein drogenabhängiges Arschloch. Aber eben auch ein großer Künstler.
Info: Alles wird gut (D 2012), Buch, Regie und Produktion: Niko von Glasow, mit Christina Zajber, Leslie Ann Mader, Christiane Grieb u.a., 96 Minuten. Kinostart: 1. November