Kultur

Istanbuls dunkle Seele(n)

Wo versteckt sich die Seele einer Millionenmetropole? Der Dokumentarfilm „Hasret“ begibt sich auf eine rauschhafte Spurensuche hinter den Glitzerfassaden von Istanbul.
von ohne Autor · 27. November 2015

Eine Stadt auf zwei Kontinenten, nach offiziellen Angaben zwölf Millionen Einwohner, 8000 Jahre Geschichte, pralles Nachtleben neben frommer Askese und eine von Bulldozer-Heeren durchgesetzte Gentrifizierung: Wie wenige andere Städte steht Istanbul für das Monströse, Widersprüchliche und Faszinierende einer Metropole. Einer Metropole, die mehrere Welten in sich vereint. Für jedes Bild, das wir von dieser Stadt haben, scheint es auch einen Gegenentwurf zu geben. Nur mit Mühe formt sich ein Gesamtbild.

Vertraute Orte verschwinden

Der Filmemacher Ben Hopkins begibt sich in „Hasret“ auf die Suche nach dem verborgenen Istanbul. Auch aus ganz persönlichen Gründen: Jahrelang lebte der Engländer in der Stadt. Vor ein paar Jahren kehrte er von Berlin zurück an den Bosporus. Und konnte sich kaum orientieren. Viele vertraute Orte waren verschwunden. Sie sind dem Bauboom zum Opfer gefallen, der die Stadt seit Langem in Atem hält.

Seite an Seite, so Hopkins Erzählung, arbeiten die islamistische AKP von Staatspräsident und Ex-Bürgermeister Recep Tayyip Erdogan und großkopferte Bauunternehmer daran, Istanbul gewaltsam zu einer Glitzermetropole umzubauen. Historische Viertel weichen Hochhäusern und Shoppingmalls – nicht selten handelt es sich um Hochburgen der Opposition. Manchmal trifft es auch eine Grünanlage: Der geplante Rückbau des Gezi-Parks im Zentrum hatte vor zwei Jahren Massenproteste nach sich gezogen, die sich am Ende gegen Erdogan richteten.

Umkämpfter Moloch

Istanbul, der umkämpfte Moloch: Auch davon handelt der Film, doch um Politik oder Gesellschaftskritik geht es hier nur am Rande. „Hasret“ ist das türkische Wort für Sehnsucht. Eben diese ist der eigentliche rote Faden dieser Produktion, die den klassischen Rahmen eines Dokumentarfilms sprengt.

Um sich der für ihn so anziehenden „Seele“ der Stadt mit ihren rätselhaften und unbekannten Seiten zu nähern, stürzt sich Hopkins, dessen Film „37 Uses für A Dead Sheep“ 2006 auf der Berlinale lief, mitten hinein in die Schattenwelten Istanbuls, was am Anfang allerdings schwer zu erahnen ist. Von der klammen Produktionsfirma beauftragt, touristische Hotspots abzufilmen, um sie anschließend mit Technobeats zu unterlegen, landet Hopkins mit seiner Crew unter erbärmlichsten Bedingungen im Hafen der Metropole an. Schon hier kommen Fragen auf, was von all dem inszeniert oder authentisch ist.

Besuche bei Müllsammlern und einem Sufi-Derwisch

Unverkennbar zeigt sich bereits in diesen frühen Szenen der fatalistische, aber keinesfalls zynische Humor des Regisseurs. In ähnlichem Erzählton geht es weiter zu Gezi-Veteranen und anderen Erdogan-Gegnern, aber auch zu Vertretern des christlichen und muslimischen Lebens – der ursprüngliche Drehplan ist da längst im Nu abgespult. „Wenn hier der Muezzin ruft, bekreuzigen sich die Christen, das gibt es sonst nirgendwo“: Die Aussage eines armenischen Christen bleibt gerade in diesen Zeiten hängen. Auch die Besuche bei Müllsammlern und einem Sufi-Derwisch, der ein Café für Liebende und Verrückte betreibt, bieten ungewöhnliche Einblicke in den Alltag von Menschen, die den Großstadtbetrieb nahezu unsichtbar am Laufen halten.

Doch seine wahre Tiefe erreicht der Film ab dem Punkt, wo sich Hopkins vollends, also auch ästhetisch, seiner Leidenschaft für die verborgenen Seiten Istanbuls hingibt und der Film zum Bewusstseinsstrom wird. Sind nicht die Katzen die eigentlichen Herrscher des wirtschaftlichen und kulturellen Zentrums der Türkei, wie ein kauziger Schauspieler und Historiker behauptet? Welchen Anteil haben die Geister der Toten, die unbemerkt durch die Straßen schweben, am Wesen der Stadt? Überhaupt: Existiert ein Ort nicht auch in Erinnerungen und Gedanken, die es einzufangen gilt?

Fahriger Trip

Die Geister Istanbuls: Hopkins meint sie gar auf seinen Bildern entdeckt zu haben und jagt ihnen nach – auch, um damit sein eigenes Bild von der Stadt zusammenzusetzen und zu erweitern: Der Wechsel vom Dokumentarischen zum Essayistischen, von in aller Ruhe eingefangenen Schauplätzen im Tageslicht hin zu einem fahrigen Trip durch die Nacht, die Verschmelzung von Dokumentation und Poesie verstören zunächst, doch die fast schon berauschenden Wanderungen durch düstere Gassen mit ihren schillernden Gestalten und Örtlichkeiten hinterlassen einen nachhaltigen, wenn auch verwirrenden Eindruck. Sodass sich am Ende die Gewissheit einstellt: Was wären Metropolen ohne Legenden und Geheimnisse? Nicht viel mehr als eine Shoppingmall.

Hasret – Sehnsucht (D 2015), ein Film von Ben Hopkins, 78 Minuten, OmU. Jetzt im Kino.

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