Kultur

Ist die innere Einheit gescheitert? Der Aufbau Ost

von Dagmar Günther · 6. Januar 2006

24 Autoren aus Wissenschaft und Politik untersuchen die Frage, warum der "Aufbau Ost" bisher nur teilweise gelang. Zwar erhielten Infrastruktur und Fabriken ein stark modernisier¬tes Outfit, aber die mittelständische und regionale Industrie stagniert. Massenarbeitslosigkeit knechtet das Land; viele junge Deutsche wandern ab. Je weiter die Spirale der "Ver¬greisung" nach unten geht, desto weniger investieren Unternehmer. Der¬zeit liegt das Brutto-Inlandspro¬dukt der neuen Länder bei 63 Prozent der alten Bundesrepu¬blik. Der Aufholprozess stagniert seit Mitte der 90-er Jahre; die Gefahr eines deutschen Sizilien ist nicht zu ver¬kennen.

War die rasche Wiedervereinigung falsch? Oskar Lafontaine hat 1990 die Einheit für unbe¬zahlbar gehalten. Jedoch verdeutlicht Richard Schröder, dass Lafontaine "keine praktikablen Alter¬nativen für die deutsche Einigung" anbieten konnte. Schon unter außenpolitischen Ge¬sichts¬punkten, so argumentiert er, musste die Einigung zügig herbeigeführt werden, bevor das heiße Eisen erkaltete.

Auch die oft gescholtene Währungsunion im Verhältnis 1:1 hält Schröder für richtig. An¬dernfalls wären Gehälter und Sparguthaben abgestürzt. Nachteile barg diese Regelung für die ostdeutschen Betriebe; sie mussten ihre Schulden nun in DM abzahlen. Bedenke man, dass sich die DDR 1989/90 auflöste, dann glaubten heute nur "Träumer" an die Möglichkeit eines dritten Weges. "Wollte man den sicheren Weg zur deutschen Einheit gehen, musste es der schnelle Weg sein".

Christoph Links und Hannes Bahrmann erläutern wirtschaftspolitische Fehlgriffe der Zeit nach 1990. Die Situation habe nicht der von 1945 entsprochen. Damals lebten alle Deutsche in Armut, und Deutschland war ein geschlossener Wirtschaftsraum.

1989/90 gehörte jedoch das "fordistische" Modell des Kapitalismus, das dem westdeutschen Wirtschaftswunder zugrunde lag, zum alten Eisen. Wirtschaftswachstum verringere nicht mehr zwangsläufig die Arbeitslosenquote. Heute könne allein die westdeutsche Industrie, die immer weniger Arbeitskräfte benötige, den ostdeutschen Markt versorgen. Die neoliberale Globalisierung störe zusätzlich.

Musste der Aufbau Ost als "Nachbau West" scheitern, fragen Ulrich Busch und Jörg Roese¬ler. Im Auftrag des Finanzministeriums verkaufte die Treuhand fast alle Ostbetriebe an fi¬nanzstarke Konzerne, und die kamen aus den alten Ländern. Nur fünf Prozent der früheren DDR-Betriebe fielen an Ostdeutsche. Somit lähmte die Treuhand wichtige "Kräfte der Selbstorganisation". Ostdeutsche Fabriken wurden häufig in verlängerte Werkbänke der je¬weiligen Stammfirma umstrukturiert. Die Wiederver¬einigung sei nicht dazu genutzt worden, in ganz Deutschland ein modernisiertes Wirtschafts- und Sozial¬system zu schaffen. Die "För¬derung neuer endogener Potentiale" in Ostdeutschland vermisst auch Rolf Reissig.

Tanja Busse untersucht die ostdeutsche Landwirtschaft und zeigt, wie der Aufschwung auch in der Industrie hätte funktionieren können. Vormalige Produktionsgenossenschaften über¬nahmen die dort Beschäftigten, und sie begründeten einen intakten Wirtschaftszweig, der die westdeutsche Landwirtschaft bereits in den Schatten stellt. Allerdings blieben nur 20 Prozent der früheren Arbeitsplätze erhalten!

Die Fehler der Treuhand sind heute kaum noch zu korrigieren. Wie aber soll es weitergehen? Manche Autoren schlagen vor, mittels Kredite ein Investitionsprogramm für den ökologischen Neubau der ostdeutschen Wirtschaft zu finanzieren. Alternative Energieträger seien zu entwi¬ckeln, die Grundlagenforschung und der Aufbau einer "Wissensökonomie" zu fördern.

Das alles klingt gut und sinnvoll; es bleibt die bange Frage, ob man dadurch die Langzeitar¬beitslosigkeit spürbar mindern kann. Löhne und Gehälter zu senken, damit mehr investiert wird, dürfte kaum gelingen, weil die Preise im Osten längst das westliche Niveau erreicht haben. Wäre nicht auch darüber nachzudenken, das vorhandene Quantum Arbeit gerechter zu verteilen?

Der ideenreiche Band schärft die Erkenntnis, dass es enormer gesamtdeutscher An¬strengun¬gen bedarf, um die innere Einheit zu vollenden.

Rolf Helfert

Hannes Bahrmann, Christoph Links (Hg.), Am Ziel vorbei. Die deutsche Einheit - Eine Zwischenbilanz, Ch. Links Verlag, Berlin 2005, 358 Seiten, 17, 90 Euro, ISBN 3-86153-366-9.

Autor*in
Dagmar Günther

war bis Juni 2022 Chefin vom Dienst des vorwärts.

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