von Felix Wiedemann
Das Buch handelt weniger vom Krieg selbst, oder von der Frage, wie ernst die militärische Bedrohung Israels im Mai 1967 tatsächlich gewesen ist. In erster Linie hat Segev über Israel
geschrieben: Über die Motive der handelnden Akteure in Politik und Militär, vor allem aber über die Stimmung im Lande und die Gründe dafür, warum die israelische Gesellschaft auf die Bedrohung so
reagierte, wie sie reagierte.
Auf der Grundlage von Archivmaterialien, Tagebüchern, Briefen und Interviews zeichnet Segev collageartig das Bild einer zutiefst depressiven Stimmung in den Monaten vor dem Krieg, die im Zuge
des überwältigenden militärischen Sieges in Euphorie und Übermut umschlägt. Aus diesem Spannungsverhältnis leitet er schließlich die entscheidenden Schritte ab - die Entscheidung zum präventiven
Militärschlag und zur Besetzung großer Landstriche der arabischen Nachbarstaaten.
Vernichtungsängste und militärische Überlegenheit
Zweifellos überzeugt Segevs These, dass die panischen Ängste und die Wahrnehmung der arabischen Provokationen als existentielle Gefährdung nur vor dem Hintergrund der seinerzeit gerade mal
zwanzig Jahre zurückliegenden Shoah verstanden werden können. Diese Ängste schienen sich schließlich in den Hasstiraden arabischer Führer zu bestätigen. So prophezeite der ägyptische
Staatspräsident Nasser einen neuen "Holocaust" und der seinerzeitige Verteidigungsminister und spätere Präsident Syriens, Hafiz al-Assad, kündigte einen "Vernichtungskrieg" gegen Israel an.
Anders als weite Teile der israelischen Bevölkerung haben aber sowohl Staatsgründer Ben Gurion (ein Gegner des Krieges) als auch die israelischen Militärs die Situation nicht als Existenz
bedrohend wahrgenommen, sondern zeigten sich zuversichtlich, die schlecht ausgebildeten arabischen Armeen selbst nach einem arabischen Erstangriff zu besiegen. Um die eigenen Verluste möglichst
gering zu halten, drängte das Militär während der Mai-Krise aber immer entschiedener auf einen Präventivschlag. Auch Amerikaner, Briten und Franzosen scheinen das Kräfteverhältnis realistisch
eingeschätzt zu haben und rechneten mit einem Sieg der Israelis innerhalb höchstens eines Monats.
Kulturelles Missverständnis?
Wiewohl diese Frage ohne Zugang zu arabischen Archiven nicht zu beantworten ist, hält es Segev trotz radikaler Propaganda und militärischen Provokationen eher für unwahrscheinlich, dass
Nasser Israel tatsächlich angreifen wollte. Dabei stützt er sich unter anderem auf das Protokoll eines Geheimtreffens des israelischen Unterhändlers Jáakov Herzog mit dem jordanischen König Hussein
unmittelbar nach dem Krieg. Hussein versuchte, den Israeli davon zu überzeugen, dass der jüdische Staat die Tiraden Nassers nicht hätte ernst nehmen sollen und führte den Krieg auf ein fatales
kulturelles Missverständnis zurück: "Bei den Arabern haben Worte nicht das gleiche Gewicht wie bei anderen Leuten. Drohungen haben nichts zu bedeuten."
Hielte man diese Deutung für überzeugend - dagegen spräche immerhin, dass der jordanische König ja selbst der falschen ägyptischen Siegespropaganda auf den Leim gegangen war -, so zeigte dies
immerhin, wie wenig sich die arabischen Führer mit ihrem Gegner auseinandersetzten. Vor dem Hintergrund der Shoah und der Erfahrung, dass antisemitische Vernichtungsphantasien nicht als bloße
Propaganda abgetan, sondern ernst genommen werden müssen, hätte schließlich klar sein müssen, dass der jüdische Staat dem Gemisch von militärischen Drohgebärden und Vernichtungsrhetorik nicht hat
gelassen gegenüber stehen können.
"Spontane" Besatzung
Zu den Konsequenzen des Krieges gehört schließlich die dauerhafte Besatzung auf dem Golan und in der Westbank. Segevs detaillierte Darstellung der Diskussionen innerhalb der israelischen
Führung zu diesem Thema gehört zweifellos zu den spannendsten Passagen des Buches. Anders als von arabischer Seite unterstellt, zeigt seine Analyse, dass es vor dem Krieg zwar militärische
Planspiele, aber keinen lang vorbereiteten Eroberungs- und Besatzungsplan gab.
Segev beschreibt die Besatzung vielmehr als spontane, dem Übermut geschuldete Folge des überwältigenden Sieges. Eine Eroberung der Westbank war noch im Januar 1967 von israelischen Experten
wegen der Konsequenzen, die sich aus der Herrschaft über eine Millionen zusätzlicher Araber ergeben würden, als nicht wünschenswert erachtet worden. Obwohl dies auch dem Ministerpräsidenten Eschkol
klar war, plädierte er aber nach dem Sieg über Ägypten für die Besetzung. Er wollte so eine eine möglichst große Verhandlungsmasse gewinnen.
Segev zeichnet alles andere als ein 'fatalistisches' Bild: Die Akteure folgten keinen von schicksalhaften Verhältnissen bestimmten Weg oder lang gehegten ideologischen Zielvorgaben. Die im
Rückblick wegweisenden Schritte waren vielmehr oft spontane Entscheidungen oder Nicht-Entscheidungen, die auch anders hätten ausfallen können. Was noch fehlt ist ein arabisches Pendant zu diesem
Buch. Angesichts der Lage von Wissenschaft und Forschung in Ländern wie Ägypten oder Syrien wird dies aber wohl vorerst nicht geschrieben werden.
Tom Segev, 1967. Israels zweite Geburt, Siedler, München 2007, 797 S., 28 €.
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