„Iraqi Odyssey“: Die Geschichte einer zerrissenen Familie
Terror, Chaos und religiöser Hass: Der Irak hat sich in den letzten Jahren, wenn nicht Jahrzehnten, zu einem veritablen Hort des Horrors entwickelt. Rund jeder fünfte Iraker, also etwa 4,5 Millionen Menschen, ist derzeit auf der Flucht. Doch gab es einst nicht auch einen anderen Irak? Ein Land, das Ende der 50er-Jahre ein Kolonialregime abschüttelte und sich, wenn auch unter wenig demokratischen Umständen, dem Fortschritt verschrieb?
„Iraqi Odyssey“ - Die Geschichte einer Familie
Diesen anderen Irak hatte Samir (Künstlername) im Kopf, als er mit den Vorbereitungen zu „Iraqi Odyssey“ begann. Für den Schweizer Filmemacher, Sohn eines Irakers und einer Schweizerin, ist die Geschichte des Zweistromlandes auch die seiner Familie. Als er 1955 in Bagdad geboren wird, lebt es sich recht beschaulich, sind die blutigen Umstürze und Kriege, die folgen sollten, nicht einmal zu erahnen. Doch nur wenige Jahre später hat sich ein großer Teil der Familie über viele Länder verstreut. Samir landet als Teenager mit Eltern und Geschwistern in der Schweiz.
„Iraqi Odyssey“ erzählt von einer Familie, die sich patriotisch in den Dienst an ihrem Land stellt und am Ende an den herrschenden Verhältnissen scheitert. Im Zentrum steht der Großvater des Regisseurs. Anfang des 20. Jahrhunderts geboren, gründet er eine Familie, deren Progressivität staunen lässt: Sämtliche sieben Mädchen und Jungen dürfen studieren. Mit ihrer Ausbildung als Ärzte oder Ingenieure scheinen sie wie gemacht zu sein für den Aufbau des Landes. Religiöse Toleranz, Vertrautheit mit der westlichen Literatur und Musik und der Glaube an Fortschritt und Wissenschaft wird ihnen ebenfalls auf den Weg gegeben. Doch die Zukunft gestaltet sich komplizierter und gefährlicher als gedacht: Weil sich einige von ihnen in jungen Jahren für die Kommunisten begeisterten, geraten sie in den 60er-Jahren immer wieder ins Visier der Geheimdienste.
Eine Weltreise durch die eigene Familie
Jene Onkeln und Tanten sowie ein Cousin, eine Cousine und eine Halbschwester Samirs stehen im Zentrum dieser Sammlung von Geschichten, von denen einige für sich schon filmreif wären. In ihnen verdichten sich sowohl die hoffnungsvollen als auch die erschütternden Facetten der jüngeren Geschichte Iraks – allein dieses Nebeneinander ist angesichts des düsteren Bildes, das die Außenwahrnehmung des Landes seit einer gefühlten Ewigkeit prägt, eine kleine Sensation.
Die Odyssee der Verwandten, die es unter anderem bis nach Moskau, Neuseeland, England und in die USA trieb, ist auch die des Regisseurs. Für die Interviews flog Samir um die ganze Welt, stets auf der Suche nach neuen Episoden, um damit das Bild von seiner Familie und dem Reich seiner Kindheit Zug um Zug zu ergänzen – und um sich damit auch über sich und seine Wurzeln klar zu werden. Als würde man in einem Fotoalbum blättern, springt der Film von Biografie zu Biografie. Nach anfänglicher Verwirrung formt sich ein berührendes Mosaik.
Leichtigkeit trotzt Bomben und Folter
Die vor der Kamera dargebotenen Erinnerungen an Verhaftungen, Bombardements, Folter und heimliche Fluchten sind nicht eben leichte Kost. Und doch prägt, trotz gelegentlicher melancholischer oder bedrückender Momente, letztendlich Leichtigkeit diese Erzählung, die einen sofort in ihren Bann zieht. Das liegt auch an dem scheinbar ungebrochenen Durchhaltewillen, an der geistigen Offenheit und an dem Humor, den die Verwandten in den Interviews an den Tag legen.
Eine Tante beklagt die, dem Einfluss konservativer Kleriker geschuldete, sittenstrenge Kleidung vieler Frauen im Irak von heute, während Szenen aus den 60er-Jahren einen geradezu freizügigen Eindruck vom öffentlichen Leben vermitteln, das sich von dem in Europa kaum zu unterscheiden scheint.
Irak: Ein Land, das nicht zur Ruhe kommt
Überhaupt macht die Fülle des Filmmaterials, das aus etlichen internationalen Archiven zusammengetragen wurde, einen wesentlichen Reiz aus. So weitet sich der Blick auf ein Land, das nach dem Golfkrieg von 1990/91 über lange Jahre weitgehend isoliert war. Je älter die Aufnahmen, desto leuchtender der Eindruck: der Irak als ein viel beachteter (und auch geachteter) Teil der Welt, bevor unter Saddam Hussein die düsteren Zeiten als „Schurkenstaat“ folgten. Immer wieder geraten Illustrationen aus einem Schulbuch in den Blick, was einen mitunter kindlich-naiven, immer auf das Persönliche und Konkrete abzielenden Erzählstil unterstreicht.
Die Familienchronik bestätigt aber auch etwas anderes: Nämlich, dass die unmenschliche Gewalt, die das Land seit den späten 50er-Jahren immer wieder wellenartig erfasst hat, tiefe Spuren in den Menschen hinterlassen hat. Auch dazu liefert der Film reichliches, aber dennoch wohldosiertes Anschauungsmaterial. Doch „Iraqi Odyssey“ ist keine Geschichtsdokumentation. Politische Verwicklungen, etwa das seltsame Bündnis des antikommunistischen Baath-Regimes mit der Sowjetunion, werden nur angerissen. Doch gerade weil der Regisseur, den üblichen, aus den Nachrichten vertrauten Fokus verlässt, erfahren wir umso mehr über ein nicht nur kulturell reiches Land, das nicht zur Ruhe kommt.
Iraqi Odyssey (Schweiz/ Deutschland/Irak 2015), ein Film von Samir Jamal Aldin, 90 Minuten (Langfassung: 167 Minuten)
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