In Spanien platzte 2007 im Zuge der weltweiten Finanzkrise die Immobilienblase. Die Auswirkungen waren schnell zu spüren: Insolvenzrate, Arbeitslosigkeit, Armut und Suizidrate stiegen sprunghaft an. Doch welche Einzelschicksale verbergen sich hinter diesen Begriffen? Eine scharfe Momentaufnahme liefert Rafael Chirbes’ Roman „Am Ufer“.
Der 70-jährige Protagonist Esteban musste seine Schreinerei schließen und fünf Arbeiter entlassen. Nicht nur weil die Auftraggeber insolvent sind, sondern auch weil er in ein gigantisches Bauprojekt eines windigen Spekulanten investiert hat. Über Nacht ist er pleite. Um den Hunger zu stillen, angelt und jagt er im nahegelegenen Sumpf.
Vom Trauma des Bürgerkriegs zur Finanzmarktkrise
Überhaupt der Sumpf – ein bezeichnender Ort, der sich wie ein stinkender Faden durch den Roman zieht. Er steht für einen Ort, wo versteckte Leichen und Altlasten verborgen sind, wo Korruption und Gewalt der spanischen Gesellschaft gedeihen. So entdeckt die Figur Ahmed dort die Überreste einer menschlichen Hand. Ein Mafia-Verbrechen oder ein Opfer der Franco-Diktatur – das bleibt zunächst offen. Doch der Sumpf ist bei dem preisgekrönten spanischen Schriftsteller nicht nur ein negativer Ort: Er bot Estebans Vater, der als Kommunist im Spanischen Bürgerkrieg kämpfte, nach der Niederlage einen Zufluchtsort.
Der 64-jährige Schriftsteller Chirbes stellt die aktuelle Immobilien- und Finanzkrise in eine Linie mit dem unaufgearbeiteten Trauma des Spanischen Bürgerkriegs. Dabei verweist der Roman auf die Bitterkeit der Unterlegenen, die die Folgegeneration mit ihren Idealen nicht für sich gewinnen konnte. Aber auch die faschistischen Werte nahm sie nicht an. Der Text legt nahe, dass die meisten dieser Generation undogmatisch sind.
Verdeutlicht wird das etwa an der Figur Francisco. Der gleichaltrige Kumpel von Esteban und Sohn eines berüchtigten Falangisten kann, trotz linker Attitüde, auf das finanzielle Polster seiner Familie zurückgreifen. Das Blutgeld, das der Vater in der Franco-Diktatur machte, investiert Francisco, um in die Politik zu gehen und später Gourmetkritiker zu werden – dank findiger Mauschelei. Kurz: Francisco konnte sein Leben gestalten – im Gegensatz zu Esteban. Auch in der Liebe zieht Esteban den Kürzeren: Leonor entscheidet sich für den gerissenen Aufsteiger Francisco.
Blick an die Ränder der Krisengesellschaft
Chirbes hat mit „Am Ufer“ den wohl wichtigsten Roman über die spanische, krisengeschüttelte Gesellschaft geschrieben. Er dokumentiert den Alltag in der Krise und schaut auf die Ränder: Gelegenheitsarbeiter, Migranten, Prostituierte. Zwar stehen Protagonist Esteban und sein Vater im Mittelpunkt des Romans, doch es werden einzelne Schicksale, die mit den fünf entlassenen Arbeitern zu tun haben, eingestreut. So entsteht ein beeindruckendes Panoptikum, geschrieben in einer sehr sinnlichen und präzisen Sprache.
Der Autor lässt die Leser resigniert zurück. Ähnlich wie der vielbeachtete US-Amerikanische Film „Der große Crash – Margin Call“, verweist er darauf, dass Krisen Teil des entfesselten Finanzkapitalismus sind. Andererseits gibt der Text eine Erklärung, weshalb sich bei fünf Millionen Arbeitslosen keine anhaltenden Aufstände oder Proteste breit machen: Noch ist es erträglich. Figur Francisco bringt es auf den Punkt: „Wäre da nicht die Schüssel Makkaroni, die Mama Tag für Tag für die Welpen des arbeitslosen Sohnes auf den Tisch stellt, hätte sich längst die Gewalt in den Straßen ausgebreitet.“
Rafael Chirbes: „Am Ufer“ Aus dem Spanischen von Dagmar Ploetz, Verlag Antje Kunstmann, München 2014, 430 Seiten. 24,95 Euro, ISBN 978-3-88897-867-8