Lorenz Lochthofen war Arbeiter und Kommunist. Stalins Lager überlebte er mit Glück. In der DDR stieg er zum Werksleiter auf – und stieß sich wund an der Borniertheit des Systems.
Sein Sohn Sergej hat Lorenz Lochthofens Lebensgeschichte aufgeschrieben. Er hat es in Form eines Romans getan, der auf Tatsachen beruht und von realen Menschen erzählt. Es ist gut, das zu wissen: Allzuleicht könnten Jüngere glauben, den Autor habe seine Phantasie davongetragen.
Sergej Lochthofen ist 1953 im sibirischen Workuta zur Welt gekommen und in der DDR aufgewachsen. Nach der „Wende“ wurde er als Chefredakteur der Thüringer Allgemeinen zur journalistischen Stimme des neuen deutschen Ostens.
Den „Lebensroman meines Vaters“ lässt Lochthofen 1937 beginnen. Schauprozessen fällt in diesem Jahr fast die komplette sowjetische Militärführung zum Opfer. Auch rund 40000 deutschstämmige Sowjetbürger werden wegen angeblicher Spionage erschossen. Lorenz Lochthofen wird verhaftet – „Sie kommen. Sie holen dich.“ - wird immer wieder verhört, schließlich ohne klare Anklage verurteilt und an den Rand der Arktis, nach Workuta, ins Arbeitslager deportiert.
Beklemmende Szenen
Sein Sohn hat auf der Basis von Briefen, Archivmaterialien und Erzählungen rekonstruiert, was seinem Vater widerfahren ist und was er miterlebt hat: Willkür, Morde, Misshandlungen, Tod durch Verhungern und Erfrieren. Lochthofens nüchterner Erzählstil lässt vor dem geistigen Auge des Lesers beklemmende Szenen entstehen, Szenen aus einer Welt, die Hiesigen allenfalls aus den Romanen Alexander Solschenizyns bekannt vorkommt.
Schließlich hatten wir im Westen schon genug damit zu tun, die grausige Wirklichkeit des nationalsozialistischen Terror-Regimes zu begreifen. „Die andere blutige Diktatur des zwanzigsten Jahrhunderts“ blieb im Schatten - was immer eine Einladung ist zu verklärender Verharmlosung. Auch deshalb ist „Schwarzes Eis“ ein wertvolles Buch. In Zeiten, in denen erneut über Alternativen zum ungebremsten Kapitalismus diskutiert wird, wirkt es wie eine literarische Impfung gegen Naivität.
„Der arme Marx“
In Russland sprechen manche schon wieder mit warmer Stimme von „Väterchen Stalin“. Lochthofen schildert dessen System als „fast rasputinsche Mischung aus menschenverachtender Mystik und ideologischer Frömmigkeit“. Ein System, das von Angst zusammengehalten wurde. Jeder hatte Angst – und Grund, Angst zu haben. Jeder konnte in die Fänge des NKWD geraten, des allgegenwärtigen Geheimdienstes, als dessen milde Kopie in der DDR nach dem Krieg die Stasi entstand.
„Der arme Marx,“ lässt der Autor seinen Vater sinnieren: „Wie kamen diese Menschen dazu zu behaupten, das alles geschehe nach seinem Willen? Vielleicht lag es ja an Russland…Das tiefgläubige Land hatte den alten Gott abgeschafft und ihn durch die neuen Gottheiten ersetzt.“
1958 wird Lorenz Lochthofen rehabiliert. Er könnte in den Westen ausreisen, ins Ruhrgebiet zurück, wo er geboren wurde. Doch er will in die DDR, will mithelfen, den „Arbeiter- und Bauernstaat“ aufzubauen, frei von „Stalintum“. Eine Illusion. Das ahnt er bald. Statt in Berlin zu bleiben und „Kader“ zu werden, zieht er mit seiner Familie nach Thüringen. Trinkfest, schlitzohrig, aber – glaubt man seinem Sohn - immer anständig, versucht er, ihm anvertraute Werke erfolgreich zu führen.
Verschlossene Archive
Das System dankt es ihm nur anfangs. Die „sowjetskaja Ekonomika“ setzt sich durch: „Die einen lieferten nicht das, was bestellt war. Die anderen orderten Dinge, die sie nicht brauchten. Die Dritten stellten Sachen her, die keiner haben wollte….Leider hatten die überkorrekten Deutschen das russische Spiel mit Plankennziffern und Normen nicht durchschaut.“ So jedenfalls erklärte sich Lorenz Lochthofen den Aufstand des 17. Juni 1953.
Zu den Abstrusitäten des 20. Jahrhunderts gehört auch, dass der Historiker Hermann Weber, einer der besten Kenner des Sowjetsystems, in einem seiner Werke Lorenz Lochthofen als Terroropfer erwähnt hat. Weber rief Sergej Lochthofen „kurz nach der Wende an, verwundert, dass der im Lager Verstorbene offenbar Kinder hat.“
Noch immer, beklagt Lochthofen, sind die Archive des jetzt russischen Geheimdienstes verschlossen, und er erhebt einen schweren Vorwurf: „Die Erben der Mörder des „Großen Terrors“ halten bis heute die schützende Hand über ihre geistigen Vorfahren.“
Lochthofen stößt diese Hand beiseite. „Schwarzes Eis“ sei insbesondere allen Nachwuchskadern der „Linken“ zur Lektüre empfohlen.
Sergej Lochthofen: „Schwarzes Eis. Der Lebensroman meines Vaters“, Rowohlt 2012, 447 Seiten, ISBN 978 3 498 03940 0