Manche Autoren muss man lange bitten, damit sie etwas schreiben. Dazu gehört Elfriede Jelinek gewiß nicht. Der Bitte der Münchner Kammerspiele, ein Stück zu Franz Schuberts Liederzyklus "Winterreise" zu schreiben, kam die ausgebildete Pianistin, Vielschreiberin und Übersetzerin gerne nach.
Gesellschaftliche Themen, persönliche Erinnerungen
Keine Sprecher hat ihr Text, in der Rowohlt-Ausgabe ist das Drama als 128 Seiten langer Fließtext abgedruckt. Und ein Fließtext ist es auch im engeren Sinne. Im ewigen Monolog, im Gedankenfluß, hangelt Jelinek sich von Wort zu Wort. "Endlich, jetzt ist endlich was los, und dann bin ich mich endlich los!" heißt es da. Jelinek fragt, ob da eine "Irre ist oder läuft da eine Irre davon, in ihre eigene Irre hinein, als Irrläuferin, als ihr eigener Irrsinn, ohne GPS." Ein bißchen klingt das nach Poetry Slam wie die Nobelpreisträgerin sich da durchkalauert. Und doch kann man sie sich schwer auf der Bühne vorstellen, mit ihren rötlich geschminkten Augen, dem blassen Gesicht und ihrer über der Denkerstirn aufgetürmten Frisur.
Der kaum lesbare Text erscheint so, als ob die Bedeutungen sich ganz zufällig aus den Worten ergeben hätten, als ob die Erzählung assoziativ vor sich hinplätschert. Dabei sind die Themen nicht zufällig und auch nicht neu. Auch bei Schuberts romantischen Liedern fällt der Jelinek Finanzkrise und Natascha Kampusch ein und die Geschichte ihres eigenen Vaters, der ins Heim abgeschoben wird, als er mehr und mehr dement wird. Das Zusammenspiel von großen, gesellschaftlichen Themen und intimen, ganz persönlichen Erinnerungen hat Methode. Alles wird mit Bedeutung aufgeladen, wird zur Metapher.
Etwa die Geschichte von der Braut, die sich hübsch macht, um geheiratet zu werden, die hinter ihrem Schleier aber ihre unehelichen Kinder versteckt und die auf den Skandal um die österreichische Hypo Alpe Bank anspielt. Heiraten oder Fusionieren, die Braut frisieren oder die Zahlen, Kinder verheimlichen oder finanzielle Altlasten, es ist immer der gleiche Vorgang.
Literarische Vergangenheitsbewältigung
Die Literaturnobelpreisträgerin gibt sich wütend und engagiert, um an anderer Stelle ganz leise zu werden. "Ich wandere nicht mehr gerne. Das, was gewesen ist, auch das, was mich seit meiner Kindheit gequält hat, kommt jetzt an. Es ist lang gewandert und nun ist es bei mir angekommen.", läßt sie ihren altersmüden Vater sagen und meint damit doch auch sich. Die literarische Vergangenheitsbewältigung mag manchem auf die Nerven gehen. Sprachlich gehören die Passagen zu den besten. Passagen, in denen ein alter Mann darüber klagt aus seinem Haus vertrieben zu werden und in einem "Einfamilienhaus mit dreißig Betten" zu landen, gefesselt an ein Bettgitter, damit er, der Wanderer, nicht immer davonläuft.
Das sind Absurditäten, die er nicht fassen kann. "Ihr wart zu viele, ihr wart zwei" kapituliert er vor der Übermacht von Frau und Tochter. Den "Fluß, der zurück fließt" und den er sich so sehr wünscht, gibt es nicht.
Die Lästereien ihrer Landsleute
Die lose Klammer, die Jelineks "Winterreise" zusammenhält und mit der musikalischen Vorlage verbindet, ist ein Gefühl der Einsamkeit, der Heimatlosigkeit und des Verlassenseins. Das Bild, das ihr dafür am meisten einleuchtet und mit dem sie sich auseinandersetzt seit der Fall bekannt wurde, ist das Verließ Natascha Kampuschs, ist der weiße Kastenwagen, der ein Mädchen von der Straße aufliest und für Jahre in ein Kellerloch verschleppt. In "Winterreise" lauscht Jelinek den Lästereien ihrer Landsleute.
Nicht über den Täter wird gesprochen, sondern über das Opfer: "Der Ventilator im Verließ wäre zu laut gewesen. Sonst noch Wünsche?", schimpfen sie. Neidisch sind sie auf das Mädchen, das alle bestaunen, als wäre es in einer fremden Welt gewesen, wo es doch nur im Keller saß. Sie lassen es wie eine prätentiöse Göre aussehen und wünschen sich insgeheim, sie würde verschwinden. Am besten dahin, wo sie herkam. Schlussstrich. Einer unter den Fall Kampusch, einer unter die Finanzkrise, einer unter die Nazi-Vergangenheit, einer unter Schuberts Liederzyklus.
Elfriede Jelinek: "Winterreise. Ein Theaterstück", Rowohlt Verlag, Hamburg, 2011, 128 Seiten, 14,95 Euro, ISBN 978-3-498-03236-4