„As I Open My Eyes“: Tunesien zwischen Protest und Rausch
Wenn autokratische Systeme implodieren, dann auch, weil die Zahl der Menschen, die endlich ihre eigenen Lebensentwürfe realisieren wollen, zu groß geworden ist. Auch aus dem Aufbegehren der Jugend gegen die scheinbar in Stein gemeißelten Konventionen der Alten speiste sich die Dynamik der Arabellion. Mittlerweile ist die fast überall verpufft. Einzig Tunesien, das Mutterland jener Bewegung, befindet sich noch auf dem Pfad der Demokratisierung. Wie es dort vor dem Sturz von Dikator Zine el-Abidine Ben Ali im Frühjahr 2011 zuging, ergründet diese eindringliche tunesisch-französische Koproduktion.
Gefährliche Leidenschaft
Sie setzt ein Jahr vor der Zeitenwende ein. Eigene Träume verwirklichen oder nicht: Dieser Konflikt in einem selbst ist auch jener zwischen Farah und ihrer Mutter Hayet. Dass die 18-Jährige nach ihrem soeben erlangten Schulabschluss Medizin studiert und Ärztin wird, scheint beschlossene Sache. Doch der jungen Frau schwebt eine Karriere als Sängerin vor. Gerade hat sie angefangen, mit einer Rockband durch die Kneipen von Tunis zu tingeln. Mit regimekritischen Texten und schnellen Akkorden auf der arabischen Laute reißen sie die Leute mit. Hayet (mit subtiler Strenge gespielt von der berühmten tunesischen Sängerin Ghalia Benali) beobachtet die Leidenschaft ihrer Tochter mit Sorge, kennt sie doch den mühsamen Weg in ein angepasstes Leben aus eigener Erfahrung. Längst begraben sind die politischen Visionen aus Studientagen. Jetzt will sie sogar ihren Mann überreden, in die Partei einzutreten. Der wurde vor Jahren vom Regime kaltgestellt und in die Phosphorminen von Gafsa geschickt. Im realen Tunesien demonstrierten die Minenarbeiter dort bereits 2008 gegen Ben Ali.
Doch Farah ist nicht zu stoppen. Gegen den Willen ihrer Mutter und voller Energie stürzt sie sich ins Musikerleben, beginnt eine Affäre mit dem Bandleader und trinkt, was das Zeug hält. Als könnte es immer so weitergehen. Man ahnt es schnell: kann es nicht! Plötzlich sitzt sie tränenüberströmt auf einem Hocker zwischen zwei Geheimpolizisten, die sie traktieren.
Plötzlich ganz unten
Die tunesische, mittlerweile in Paris lebende Filmemacherin Leyla Bouzid macht deutlich, in welcher Fallhöhe sich, auch im sozialen Sinne, unkoventionelle Menschen wie Farah seinerzeit und auch heute noch, in Zeiten der Transformation, bewegen. Sie ist stets spürbar, ohne überbetont zu werden. Vielmehr entfachen die zusammengeschnittenen Konzertauftritte eine rauschartige Wirkung: Für ihren Film castete Bouzid gestandene Musiker und ließ sie ausgiebig proben. In den stickigen Kneipensälen scheint die Band fast nur auf Gleichgesinnte zu treffen. Bei den ebenso klagevollen wie energetischen Gesängen über das „Land im Staub“, die sich durch ebenso poetische wie bissige Zustandsbeschreibungen auszeichnen, kennt das Publikum kein Halten.
Doch es gibt auch die Welt da draußen. In dokumentarischen Bildern wird ein Dreierlei aus Stagnation, Auflösung und Angst gezeigt. In dieser Welt findet sich Farah plötzlich ganz unten wieder. Im Verhörkeller wird sie damit konfrontiert, dass auch in ihrem vermeintlichen Musiker-Biotop der Verrat wuchert. Die Geheimpolizisten wollen die unbequeme Sängerin zum Verstummen bringen, doch am Ende wird sie ihre Stimme wieder erheben, wenn auch für einen hohen Preis.
Tunesien und der vergessene Schrecken
Dafür, dass dieser Film von hochpolitischen Dingen handelt, findet Politik vergleichsweise wenig Raum. Zumindest im Sinne von politischen Ideen. Die Regisseurin begreift den Freiheitsdrang ihrer Protagonisten in einer viel umfassenderen, vielleicht hedonistischen Sichtweise. Es geht um junge Menschen aus verschiedenen sozialen Milieus, die ihre Ideen zuallererst durch Songs und Auftritte verwirklichen wollen, was schon kompliziert und gefährlich genug ist.
Die 1984 geborene Bouzid richtete ihren Fokus auf die „aufbrausende Jugend“, wie sie sie nennt, um in der medialen Wahrnehmung ihres Landes nicht nur Extremisten und Terroristen das Feld zu überlassen. Um zu zeigen, wie eine Gruppe oder eine Bewegung im wahrsten Sinne des Wortes mundtot gemacht werden soll. „Es gibt auch andere Formen des Schreckens“, sagt sie. Vom Schrecken der Geheimpolizei, den viele Tunesier viel zu schnell vergessen haben, erzählt sie in ebenso bedrückender wie aufmunternder Weise. Dass Tunesien den Film ins Rennen um die Oscars 2017 schickt, macht Hoffnung.
Info:
„As I Open My Eyes/Kaum öffne ich die Augen“ (Tunesien/Frankreich 2015), ein Film von Leyla Bouzid, Musik: Khyam Allami, mit Baya Medhaffer, Ghalia Benali, Montassar Ayari u.a., OmU, 102 Minuten.
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