„Haymatloz“: Traum von Freiheit in der Türkei
Eine ältere Dame blickt durch das Taxifenster auf eine Schnellstraße in Istanbul. „Wären wir nicht hierhin gegangen, wären wir in Auschwitz gelandet“, sagt sie. Nüchtern beschreibt Susan Ferenz-Schwartz die Alternativen, vor der ihre Familie nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten stand.
Tausende Akademiker flohen aus Nazi-Deutschland
Ihr Vater war der angesehene Pathologieprofessor Philipp Schwartz. Wegen seiner jüdischen Wurzeln entließ ihn die Frankfurter Universität im Jahr 1933. Mit Frau und Kindern ging er in die Schweiz und gründete die „Notgemeinschaft deutscher Wissenschaftler im Ausland“, die 2.600 Akademikern aus Deutschland, Österreich und der Tschechoslowakei zur Flucht vor dem NS-Regime und zu einer neuen Stelle, überwiegend in Istanbul, verhalf. An der dortigen Universität übernahm Schwartz 1933 das Institut für Pathologie.
Anhand von fünf Familien erzählt Regisseurin Eren Önsöz ein weitgehend unbekanntes Kapitel der deutschen Emigrationsgeschichte. So wird ein weiteres Mal der gewaltige Brain Drain vergegenwärtigt, der Deutschland seinerzeit in Wissenschaft und Kunst erfasst hat.
Die Türkei war 1933 beliebtes Exilland
Dass so viele Gelehrte die Türkei als Exil wählten, hatte mehrere Gründe. Vor allem öffnete die Situation in dem Land selbst ihnen viele Türen: Der junge türkische Staat brauchte Fachleute, um sein Universitätssystem und die gesamte Infrastruktur in die Moderne zu befördern, aber auch, um westliche Ästhetik in Architektur und Kunst einfließen zu lassen. Da kamen die Top-Kräfte in höchster Not gerade recht. Der Jurist Ernst Hirsch schrieb sogar Gesetzeskommentare, die bis heute gültig sind. Während Schwartz und Hirsch in Deutschland weithin vergessen sind, fanden sie am Bosporus Eingang ins kulturelle Gedächtnis.
„Haymatloz“ beschäftigt sich aber nicht nur mit der Zeit des Exils. Seine Perspektive liegt zu großen Teilen in der Gegenwart: Im Mittelpunkt stehen die Kinder der vertriebenen Akademiker. Viele von ihnen leben in zwei Welten, wenn nicht gar im Niemandsland, wie es Ferenz-Schwartz, heutzutage zuhause in der Schweiz, ausdrückt. Oder eben „haymatloz“. Immer geht es auch um die Frage, wie man angesichts dieser Vorgeschichte einen eigenständigen Lebensweg einschlagen kann. Mancher, so ist zu erfahren, hat sich Vater oder Mutter ganz bewusst nicht als Vorbild für die eigene Karriere genommen.
Das alte freie Istanbul ist verschwunden
Aufgewachsen in der Türkei und häufig einen deutschen und türkischen Namen tragend, wirken die Erfahrungen der Kindheit bei den Nachfahren der Nazi-Verfolgten bis heute nach. Wenn Ferenz-Schwartz, mittlerweile 83 Jahre alt und vormals als Psychotherapeutin tätig, und andere Interviewpartner heute durch Istanbul laufen, macht sich Melancholie breit: nicht nur wegen der Erinnerungen an vergangene Zeiten, sondern auch, weil sie das Gefühl haben, die Türkei und das Istanbul von damals würden nicht mehr existieren.
Darin liegt der entscheidende dramaturgische Kniff des Films. Immer wieder reist Önsoz – 1972 in der Türkei geboren und in Deutschland aufgewachsen – mit ihren Protagonisten nach Istanbul und Ankara. Und bei jedem Besuch machen sich die Folgen des Systems Erdogan deutlich, das seit einigen Jahre zunehmend autoritär wird.
Heute ist die Freiheit in der Türkei bedroht
Träumten deutsche Professoren seinerzeit von der Freiheit in der Türkei, ist genau die heute bedroht. Man denke nur an die Massenentlassungen missliebiger Hochschulmitarbeiter nach dem Putschversuch in diesem Sommer. Werden auch die regierungskritischen Istanbuler Studenten, die vor der Kamera zu Wort kommen, eines Tages ins Ausland gehen müssen?
Dass Önsöz diese komplexe Materie mit leichter Hand und äußerst anschaulich erzählt, zählt zu den Überraschungen dieses Films. Viele Gesprächspartner zeigen Humor, Selbstironie, aber auch einen sensiblen Blick aufs Leben, das dürfte die Sache erleichtert haben.
Schicksale zwischen Deutschland und der Türkei
Durch den permanenten Sprung zwischen Vergangenheit und Gegenwart – zu sehen sind unter anderem historische Fotos und Filmaufnahmen vom Alltag unter Atatürk – ergibt sich obendrein eine dynamische Erzählperspektive. Nicht nur die Suche nach den Spuren von Schwartz und Hirsch in Deutschland macht deutlich, wie viel deren Schicksal auch mit uns zu tun hat.
Info:
„Haymatloz“ (Deutschland 2016), ein Film von Eren Önsöz, mit Susan Ferenz-Schwartz, Elisabeth Weber Belling, Enver Tandogan Hirsch, Kurt Heilbronn u.a., 92 Minuten
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