Kultur

Harry Graf Kessler und seine Zeit

von Dagmar Günther · 1. Juli 2008

Nach der Herausgabe der umfangreichen Kessler-Tagebücher des Klett-Cotta Verlages ist nun eine dritte Biographie über Harry Graf Kessler erschienen. Bisher haben sich Peter Grupp 1999 und Laird McLeod Easton 2005 mit dem Leben des "Roten Grafen", wie er in der Zeit der Weimarer Republik genannt wurde, beschäftigt.

Friedrich Rothe verknüpft die Höhepunkte und Tiefschläge in Kesslers Leben mit der Historie. Kesslers Leben und Deutschlands schwieriger Weg in die Moderne belegen eindrucksvoll, wie die Umbruchszeit vom 19. in das 20. Jahrhundert das Lebensgefühl der Menschen beeinflusste. Dabei legt Rothe nicht nur großen Wert auf den Tagebuchschreiber und Zeitzeugen Kessler, sondern versucht ihn als einfachen Menschen sichtbar zu machen.



Vielen Welten und das Gefühl der Einsamkeit


Kessler wurde 1868 als Sohn des reichen Bankiers Adolf Kessler und der exzentrischen aus angloindischen Hause stammenden Alice Harriet Blosse-Lynch geboren. Der junge Graf verlebte seine Jugend zwischen preußischer Disziplin, Eliteschulen in Paris, Ascot und Hamburg und der Mondänität des ausgehenden Jahrhunderts. Er verstand es, sich mit weltmännischem Auftreten Zugang zu den feinen Berliner und Pariser Salons zu verschaffen. In seiner Kindheit von verschiedenen Kulturen beeinflusst bezeichnete er sich selbst als Angehörigen einer europäischen Gesellschaft - dies nicht zuletzt auch aufgrund seiner zeitweiligen Stellung als Diplomat und seiner zahlreichen Reisen.

Rothe räumt mit dem Klischee auf, Kessler sei ein typischer Dandy gewesen. Der intellektuelle Kosmopolit hätte nach seiner Ansicht kaum etwas von einem Dandy à la Dorian Gray. Im Gegenteil: Kessler schien von stetigen Selbstzweifeln geplagt gewesen zu sein. Sein gesamtes Handeln habe er darauf ausgerichtet, endlich unabhängig von den übermächtigen Eltern zu werden. Ihre Anerkennung für sein politisches Engagement suchte er jedoch vergeblich.

Nach dem Antritt der Nationalsozialisten 1933 zerplatzte sein politischer Traum von einem humanen und friedlichen Europa endgültig. Fast mittellos war Kessler gezwungen, zu seiner jüngeren Schwester nach Mallorca ins Exil zu gehen, wo er schließlich 1937 starb.



Annäherung an ein außergewöhnliches Leben


Friedrich Rothe gelingt etwas, was für Biographen sehr schwierig ist. Er entwickelt ein feines Gespür für das, was Kessler gedacht und gefühlt haben könnte. Behutsam nähert er sich dem Menschen Kessler und macht ihn für die Leser begreifbar. Von Kapitel zu Kapitel wird Kesslers Gedankenwelt nachvollziehbarer. Mögliche Beweggründe für sein Handeln erscheinen plausibel. Rothe beschreibt mit zahlreichen Bezügen zu Kesslers literarischer Hinterlassenschaft auch dessen Entwicklungsweg zum Pazifisten und Demokraten.

Lebendig und anschaulich schildert Rothe wichtige Stationen aus dem Leben des Grafen. Er lobhudelt nicht sondern hinterfragt kritisch. So ermöglicht diese Kessler-Biographie dem Leser, die Zeit des Fin de Siècle und einen ihrer wichtigsten deutschen Repräsentanten kennen und verstehen zu lernen.

Edda Neumann

Friedrich Rothe: Harry Graf Kessler, Biographie, Siedler Verlag, 2008, 348 Seiten, 22,95 Euro, ISBN-13: 978-3886808243

Autor*in
Dagmar Günther

war bis Juni 2022 Chefin vom Dienst des vorwärts.

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