Golineh Atai: Für eine Zeitenwende auch in der Iran-Politik!
Am 10. Mai 1933 brannten auf dem Berliner Opernplatz tausende Bücher. Studierende hatten sie herbeigeschafft, Buchhandlungen und Bibliotheken tatkräftig dabei geholfen. Es wurden Werke von Erich Kästner verbrannt, von Karl Marx und Heinrich Mann. Weil es in Strömen regnete, half die Feuerwehr und schüttete Benzin auf den Scheiterhaufen. Kästner, der sich unter die Schaulustigen gemischt hatte, sprach später von „Begräbniswetter“.
90 Jahre später und einige hundert Meter entfernt erinnert Bärbel Bas an diese „kulturelle Barbarei“. In der Französischen Friedrichstadtkirche am Berliner Gendarmenmarkt hält die Bundestagspräsidentin die Festrede bei der Verleihung des Preises für „Das politische Buch“. Die Friedrich-Ebert-Stiftung verleiht ihn seit 41 Jahren am 10. Mai, in Gedenken an die Bücherverbrennung.
Die Menschen im Iran haben genug
„Regimekritische Stimmen sollten zum Schweigen gebracht werden – darunter viele Größen, die wir heute bewundern“, erinnert Bas an die damaligen Ereignisse. Doch der Satz passt auch für die aktuelle Situation im Iran. Seit Monaten protestieren dort Hundertausende gegen das Regime, nachdem am 16. September vergangenen Jahres die 22-jährige Mahsa Amini in Teheran im Polizeigewahrsam gestorben war. Sie war verhaftet worden, weil ihr Kopftuch ihre Haare nicht vollständig bedeckt hatte.
„Die Menschen im Iran haben genug davon, dass Frauen wegen des Kopftuchs sogar ihr Leben lassen müssen“, sagt Bas. Wie viele andere Abgeordnete hat auch sie eine Patenschaft für eine Inhaftierte übernommen. Die Deutsch-Iranerin Nahid Taghavi wurde wegen „Mitgliedschaft in einer illegalen Gruppe“ zu fast elf Jahren Gefängnis verurteilt. „Die Unterdrückung der Frau ist Gift für die Entwicklung jeder Gesellschaft“, sagt Bas in der Friedrichstadtkirche.
Den Iran zu ihrem Thema gemacht
Eine, die die Situation der Frauen im Iran besonders gut kennt, ist Golineh Atai. Sie wurde 1974 in Teheran geboren. Als sie fünf Jahre alt war, verließ sie mit ihren Eltern den Iran und wuchs in Baden-Württemberg auf. Heute leitet die Journalistin das ZDF-Studio in Kairo. Noch vor Beginn der Massenproteste erschien 2021 ihr Buch „Iran. Die Freiheit ist weiblich“. Atai porträtiert darin neun Frauen in ihrem Kampf um Gleichberechtigung. „Es werden Wahrheiten aufgeführt, die wir lange ignoriert haben“, sagt der Sprecher der Jury für den Preis „Das politische Buch“, Werner Stephan.
„Das Buch ist eine Einladung, sich mit der wahren Natur eines Regimes zu beschäftigen“, beschreibt es Golineh Atai selbst in ihrer Dankesrede. Der Preis sei nicht für sie, sondern „für die Heldinnen – Menschen, die wir seit mehr als zehn Jahren vergessen hatten“. Sie selbst habe nie zur Stimme der Iraner*innen in der Diaspora werden wollen, erzählt Atai später im Gespräch mit dem Vorsitzenden der Friedrich-Ebert-Stiftung, Martin Schulz. „Der Iran wollte mich nicht verlassen, auch wenn ich den Iran verlassen hatte. Irgendwann habe ich das angenommen und zu meinem Thema gemacht.“
Eine Zeitenwende in der Iran-Politik
Zum Glück, möchte man sagen, hilft Golineh Atai mit ihrem Buch doch den deutschen Leser*innen, die Vorgänge im Iran um einiges besser zu verstehen. „Wir haben sehr lange nicht in die dunklen Ecken geschaut“, sagt die Journalistin bei der Preisverleihung. Auch deshalb seien viele im Westen nun so überrascht, was im Iran vor sich gehe. Am Ende des Gesprächs hat die Preisträgerin noch einen Wunsch. Deutschland solle sich endlich von falschen Gewissheiten verabschieden. „Das, was wir in der Russland-Politik vollzogen haben, müssen wir auch mit Blick auf den Iran vollziehen: Wir brauchen auch in der Iran-Politik eine Zeitenwende.“
Dirk Bleicker | vorwärts
ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.