Kultur

Geworfen um zu bleiben

von ohne Autor · 21. September 2014

Halbe Kinder als zu allem entschlossene Kidnapper: Das Drama „Bastard“ zeigt, wie weit Heranwachsende gehen können, um sich gegen verordnete Identitäten und eine sprachlose Umgebung zu wehren.

„Warum hast du mich nicht abgetrieben?“ Diese Frage hat Anja gerade noch gefehlt. Seit Tagen werden sie und ihr Mann verrückt vor Sorge. Von ihrem Sohn Nicholas fehlt jede Spur. Bald stellt sich heraus, dass er entführt wurde. Währenddessen drängt sich ein merkwürdiger Junge in das Leben der Familie. Zuerst ist es nur eine Spielkonsole, die dieser Leon Nicholas geliehen haben will und nun zurückfordert. Kurz darauf steht er wieder auf der Matte. Doch mit Spielgeräten ist es nicht mehr getan. Anja soll ihm ein Wurstbrot schmieren. Schlussendlich will er mit ihr sogar in einem Bett schlafen. Und fragt sich und sein völlig überfordertes Gegenüber, warum er überhaupt auf der Welt ist.

Zu diesem Zeitpunkt ist bereits klar, dass Anne und ihr Mann Leon völlig ausgeliefert sind, wenn sie das Leben ihres Sohnes retten wollen. Genauer gesagt: von Annes jüngerem Sohn. Der Ältere blickt ihr mit stoischer Miene, aus der gleichermaßen kindliche Naivität und Durchtriebenheit sprechen, ins Gesicht: Es ist Leon. Gerade hat er erfahren, dass Anne vor Jahren vergewaltigt wurde und das Kind, das dabei entstand, also ihn, in der Babyklappe abgegeben hat. Nach knapp 14 Jahren ist er zurück in ihrem Leben: Mit seiner Mitschülerin Mathilda hat er Nicholas in seine Gewalt gebracht und versteckt.

Kind und Gangster

Will Leon nun dessen Platz einnehmen oder will er jene Liebe und Fürsorge nachholen, die er bei seinen Adoptiveltern vermisst hat? Oder geht es ihm am Ende nur darum, sich seiner Identität zu vergewissern? Dass lange Zeit unklar bleibt, wie weit Leon das brutale Spiel treiben will, hält den Zuschauer bei der Stange. Selbst dann, wenn manche Wendung dieser Melange aus Psychothriller und Drama klischeehaft bis konstruiert wirkt: Das Ermittlerteam um eine Polizeipsychologin (Martina Gedeck) agiert mitunter derartig amateurhaft, dass man sich fragt, ob Drehbuchautor und Regisseur Carsten Unger die erwachsenen Protagonisten seines Debütfilms überhaupt ernst nimmt.

Umso subtiler geraten Leon und Mathilda: Unger findet die richtige Balance, zwei Heranwachsende zu porträtieren, die rücksichtslos ihr Ding, also letztendlich die Suche nach Geborgenheit, durchziehen, andererseits aber selbst gebrochene Wesen sind. Die ausdauernden Blick-Duelle mit den Erwachsenen entscheiden sie mühelos für sich. Der Rest ist Sprachlosigkeit.

Im Gegensatz zu Leon, dem es in seiner Stadtvilla zumindest materiell an nichts fehlt, lebt Mathilda in einer siffigen Hochhauswohnung. Längst ist die 13-Jährige in die Rolle hineingewachsen, den Laden zusammenzuhalten. Wenn sie ihre bepinkelte Alkoholiker-Mutter in die Dusche verfrachtet, zeigt sich das besonders dramatisch. Doch auch Mathilda, die sich mit einem äußeren Lolita-Schein umgibt, sehnt sich nach emotionalem Halt. Immer wieder quatscht sie wildfremde Männer an. In ihnen sucht sie Ersatz für jenen Vater, den sie bei einem Autounfall verlor. Wenn auch nur für wenige Minuten. Leons neue Familie soll auch ihre werden.

Ins Leben geworfen

Beide sind Geworfene. Zwar hat Leon seinen Rachefeldzug von langer Hand geplant, nachdem er zufällig auf seine Adoptionsurkunde gestoßen war. Doch auch in ihm, der im Verhör genüsslich die Tatsache auskostet, noch nicht strafmündig zu sein, bricht immer wieder das Kind durch. Zum Beispiel dann, wenn er mit seiner wiederentdeckten Mutter im Bett liegt und die sich angewidert abwendet. Oder wenn er unter dem Druck, den er sich selbst auferlegt hat, fast zusammenbricht. Würde nicht immer wieder Nicholas auf verwackelten Bildern aus seinem dunklen Versteck auftauchen, könnte man die Entführung fast ausblenden.

Immer dann, wenn sich der Film ganz auf die juvenilen Hauptfiguren konzentriert, erlebt er seine stärksten Momente. Nicht nur aber auch, weil die Frage mitschwingt, wie Jugendliche mit ihrer Schuld leben, obwohl sie sich einreden, sich nur das zu nehmen, was ihnen zusteht – und vom Gesetz ohnehin nicht belangt werden können. Zumindest noch nicht. Den Nachwuchsdarstellern Markus Krojer, bekannt aus „Wer früher stirbt, ist länger tot“, und Antonia Lingemann gelingt dabei ein eindringliches Spagat zwischen Naivität und Kalkül ohne jedes Betroffenheitsgedusel.

Was vom Kalkül bleibt

Das ohnehin fragile Kalkül schlägt gegen Ende allerdings in Erlösungs- beziehungsweise Todessehnsucht um. Selbst wenn auf dem Weg dahin nicht immer der dramaturgische Feinschliff regiert und sich die üblichen Schwächen deutscher Genre-Produktionen zeigen: Dieser Blick auf das psychologische Chaos von Heranwachsenden, die sich in einer sprachlosen Welt verloren fühlen, hinterlässt einen zutiefst verstörenden Eindruck.


INFO:
Bastard (Deutschland 2011), ein Film von Carsten Unger, mit Martina Gedeck, Markus Krojer, Antonia Lingemann, Thomas Thieme u.a., 125 Minuten. Ab sofort im Kino. Zum Trailer


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