Kultur

German Angst – ein deutsches Phänomen

von Die Redaktion · 14. September 2006
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"Die mentalen Probleme sind in Deutschland mindestens genauso groß wie die strukturellen Defizite, die zu bewältigen sind", erklärt Peer Steinbrück bei der Buchvorstellung. Das Jammertal sei der liebste Ausflugsort der Deutschen. Und die mentale Einstellung der letzten Jahre werde bis heute von Zukunftsangst geprägt.

Der Bundesfinanzminister blickt auf die jüngere deutsche Geschichte zurück. Der Kalte Krieg und die Zeit des Wiederaufbaus nach 45 kommen zur Sprache. "Was wäre passiert, wenn die Generation unserer Eltern in den Nachkriegsjahren so ängstlich gewesen wäre wie wir?", fragt Steinbrück. Um gleich eine weitere Frage anzufügen: "Gibt es heute nicht weniger Grund zur Angst als damals?"

Deutschland habe im Lauf des letzten Jahrhunderts zahlreiche Traumata erlebt: die beiden verlorenen Weltkriege, die Nazi-Barbarei, den moralischen Zusammenbruch 1945, mehrere Währungsreformen. Dies alles habe Mentalitätsgeschichte geschrieben. Nirgends sei die Angst so ausgeprägt wie hierzulande, nicht einmal in den Ländern, die Deutschland während der Kriege besetzt hatte.

Und die "German Angst" zeige Symptome. So sei bei den Deutschen ein extrem ausgeprägtes Sicherheits- und Kontrollbedürfnis vorhanden, das sich vor allem durch einen "überbordenden Regulierungswahn" äußere, so Steinbrück. "Dies kann nicht nur auf übereifrige Administratoren oder durchgeknallte Politiker zurückgeführt werden." Es habe sich ein Misstrauen gegenüber allen entwickelt, die diese Dinge ändern wollten, erklärt der Minister. Früher sei mit Reformen allgemein etwas Positives verbunden worden, heute sei das Gegenteil der Fall. "Die Menschen fragen sich heute, was sie durch die Reformen verlieren können." In der Tat könne die Politik das Wohlstandsparadigma vergangener Jahre, wonach es Jahr für Jahr besser werde, heute nicht mehr garantieren. Dies sei neben anderen Ursachen einer der Gründe, warum das Vertrauen in die Politik schwer erschüttert sei. Dennoch seien die Erwartungen an die Politiker nach wie vor sehr hoch.

Probleme gebe es auch mit der politischen Kommunikation. Die Politik fordere Opfer und mute den Bürgern vieles zu, ohne dass diesen richtig klar werde wofür. Dies sei aber nicht allein Fehler der Politik. "Die Politik hat sicher eine Bringschuld." Aber die Demokraten hätten auch eine Holschuld. "Diese wird nicht erfüllt", betont der Minister.

Trotzdem macht Peer Steinbrück auch positive Entwicklungen aus. "Nie war dieses Land so tolerant wie heute", erklärt er. Und die von Sabine Bode geschilderten Symptome für die "German Angst" und die Möglichkeiten, mit dieser Angst umzugehen, bezeichnet er als originell und nachdenkenswert.

Die Buchautorin selbst sieht einen entscheidenden Aspekt für die "German Angst" in einem Mangel an kollektivem Trauerempfinden. "Die Unfähigkeit zu trauern wurde anderweitig kompensiert", sagt sie. Dann liest sie den Beginn des Kapitels "Können Vaterlose führen?" aus ihrem Buch vor. Darin geht es um Altkanzler Gerhard Schröder und den Zeithistoriker Jürgen Reulecke. Beide haben ihre Väter nie kennen gelernt, denn sie sind im Krieg gefallen, als die Söhne noch sehr klein waren. Erst Jahrzehnte später konnten die vaterlos aufgewachsenen Männer Trauer empfinden. Schröder, als er im Sommer 2004 erstmals das Grab seines Vaters in Rumänien besuchte. Reulecke, als er mehr als 50 Jahre nach dem Tod seines Vaters einen Film im Kino sah.

Sie habe diese Passage für die Lektüre gewählt, da solche Geschichen zunehmend erzählt würden - wenn auch eher von Frauen als von Männern, erklärt Sabine Bode. Die Autorin: "Männer tun sich damit immer noch schwer. Reulecke ist mit seiner sehr persönlichen Schilderung eine Ausnahme."



Sabine Bode: die deutsche Krankheit - German Angst, Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2006, 287 Seiten, 19,50 Euro, ISBN 3608944257.





Jürgen Dierkes


(Quelle: eigene Recherche)

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