Gelobtes Land mit Schattenseiten
„Willkommen auf Island, kennst Du Hitler?“ – „Ja, aber nur aus dem Kino.“
Eigenartige Gespräche zwischen Offenherzigkeit und Misstrauen begleiteten die Ankunft von 238 Frauen im Hafen von Rejkjavik am 8. Juni 1949. Sechs Wochen zuvor hatten sie ein Inserat in den „Lübecker Nachrichten“ gelesen, das sich mit „Bauer sucht Frau“ zusammenfassen lässt. Island wollte damals der Agrargesellschaft entwachsen und auf dem Land herrschte Frauenmangel. Somit wagten sich die Deutschen mit dem Dampfer in den Norden, wo im Gegensatz zum kriegszerstörten Deutschland genug zu essen und ein kleiner Verdienst lockte. Viele der Auswanderinnen erlebten allerdings eine böse Überraschung. Dennoch blieben zwei Drittel von ihnen der neuen Heimat treu.
Regisseurin Heike Fink beleuchtet ein kaum bekanntes Kapitel deutscher Auswanderung nach dem Zweiten Weltkrieg. Es handelt von Frauen, die sich von Island ein neues und vor allem besseres Leben versprachen. Viele von ihnen waren gerade erst 18 Jahre alt geworden und folgten ihrer Abenteuerlust, andere reisten bereits mit Mann und Kindern. Sechs der Neu-Isländerinnen konnte Heike Fink vor die Kamera holen. In Episoden wie der eingangs geschilderten ziehen sie eine Bilanz ihres Lebens. Wurde auf Island wirklich alles besser? Mussten sie dort nicht erfahren, dass sie einigen Bauern nicht nur im Haus und auf dem Hof, sondern auch im Bett Dienste leisten mussten? War die jahrelange und häufig unentgeltliche Schufterei härter als gedacht? Konnte die aus großer Liebe oder Zweckdenken heraus eingegangene Ehe mit einem Isländer schnell die Hölle auf Erden werden? Und wie war das Ansehen der Deutschen nach Krieg und Völkermord?
Ein bisschen Heimaterde
All das wird tiefgehend thematisiert, wenn die hochbetagten, aber äußerst vitalen Damen Zeugnis ablegen. Viele zweifeln auch im hohen Alter an ihrer Entscheidung für das Exil. Oftmals äußern sie das Gefühl, zwischen allen Stühlen zu sitzen. Das chronische Heimweh konnte auch mitgebrachte Erde kaum lindern. Manchmal unterscheiden die zugewanderten Isländerinnen, die ihre Muttersprache niemals aufgegeben haben und wie norddeutsche Großmütter klingen, sogar zwischen „den Isländern“ und „uns“. Gleichzeitig versichern einige glaubhaft, dass sie nicht nach Deutschland zurück wollen, weil sie sich im Reich der Schafe, Vulkane und Geysire viel freier fühlen. So wird die Rückschau immer auch zur Standortbestimmung in der Gegenwart. Verbitterung kommt dabei ebenso wenig vor wie Naivität.
Aus den Gesprächen mit der Regisseurin spricht ein großes beiderseitiges Vertrauen. Fink kam die Idee zum Film, nachdem sie an einer Tankstelle auf Island eine deutsche Emigrantin kennengelernt und ihre Lebensgeschichte erfahren hatte. Zuvor hatte sie dort über Elfen recherchiert. Mystisch sind auch viele der Aufnahmen von Bergen und Küsten, welche die ausgiebigen Blöcke aus Erinnerungsberichten auflockern. Manchmal zeigt sich eine der Frauen vor der isländischen Kulisse von gigantischer, wilder und unwirklich anmutender Schönheit.
Fehlender Kontext
Doch dramaturgisch finden Gespräche und Landschaften nicht zueinander. Die sinnlichen Eindrücke vom Alltag als Landarbeiterin bleiben Episoden. Vielmehr stell der Film die Frage, was es heißt, in der Fremde zu leben. Trotz dieses zeitlosen Rahmens hätte Fink mehr zum historischen Kontext liefern müssen. Warum genau sind die Frauen ins Ausland gegangen? Was ließen sie physisch, aber auch psychisch in ihrer zerstörten Heimat zurück? Fiel ihnen die Reise ins Ungewisse deshalb so leicht, weil sie nach Vertreibung und Krieg ohnehin entwurzelt waren?
Wenn eine der Großmütter sagt, sie und ihre Altersgenossinnen seien ständig „vor dem Krieg weggelaufen“, scheint dieser Gedanke nicht ganz abwegig zu sein.
Info
Eisheimat (Deutschland 2012), ein Film von Heike Fink, mit Ursula von Balszun, Ilse Björnsson, Ursula Gudmundsson u.a., 84 Minuten, Sprache: Deutsch, 84 Minuten
Ab sofort auf DVD