Welchem Zweck dient eine parlamentarische Debatte, wenn in den Medien ohnehin schon wochenlang über das Thema diskutiert wurde? Roman Herzog nimmt die Bundestagsdebatte über den Euro-Rettungsschirm im September 2011 zum Anlass, um diese Frage mit Hilfe von Stimmen aus Politik, Medien, Wissenschaft und den Menschen zu diskutieren.
29. September 2011: In der Bundestagsdebatte um die Erweiterung des Euro-Rettungsschirms (EFSF) sind sich die Fraktionen über Parteigrenzen hinweg einig. Sie werden dem EFSF mit großer Mehrheit zustimmen. Nichtsdestotrotz entscheidet sich Bundestagspräsident Norbert Lammert, zwei Mitgliedern der Regierungsfraktionen das Wort zu erteilen, die den Rettungsschirm klar ablehnen.
Seither muss sich Lammert nicht nur mit reger Kritik seitens der Fraktionsführungen auseinandersetzen, immerhin hatten die Regierungsfraktionen die beiden „Abweichler“ nicht als Redner vorgesehen. Auch die Rolle von Abgeordneten und Fraktionen, sowie die Stellung des Parlaments als Ort der Auseinandersetzung zwischen den Parteien werden seither eifrig diskutiert – und das nicht nur in der Politik. Auch Medien, Wissenschaft und Bürger beteiligen sich an der Diskussion.
Welche Rolle spielt der einzelne Abgeordnete im Parlament? Ist er „Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen“, wie es das Grundgesetz vorsieht? Oder ist die ungeschriebene Macht der Fraktionsdisziplin stärker? Der ehemalige Bundespräsident Roman Herzog lässt in seinem Buch „Oder gilt das nur in Demokratien? – Freies Mandat, Rederecht und Fraktionen“ Vertreter aus Politik, Medien, Wissenschaft und aus dem Volk zu dieser Frage zu Wort kommen.
Durchgehend Einigkeit mit Lammert
„Eine Demokratie lebt von der Vielfalt der Meinungen“, schreibt ein Bürger in einem Brief an den Bundestagspräsidenten. Deswegen habe die Entscheidung Lammerts „im Interesse einer lebendigen Demokratie“ gelegen, immerhin hätten die Bürger den Anspruch, über die unterschiedlichsten Aspekte einer Entscheidung informiert zu werden, heißt es in einem anderen Leserbrief. Die Bürger sind sich durchweg einig: Lammert hat sich richtig verhalten.
So sehen das auch Medienvertreter. Thomas Schmid, Journalist und Herausgeber der „Welt“-Gruppe, stellt fest: „Norbert Lammert sieht sich als Hüter der Demokratie.“ In der Debatte um den EFSF seien Bevölkerung und Parlament so stark gespalten gewesen, dass Lammert auch Gegenstimmen zum Gesetzesentwurf zu Wort kommen lassen wollte. Die Gegner des EFSF seien immerhin auch Volksvertreter, gibt Günter Bannas, Redakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, zu bedenken. Der Journalist sieht die „Fraktionsdisziplin“ im Bundestag insgesamt sehr problematisch: „Nicht ihre private politische Überzeugung (der Abgeordneten) sei gefragt, sondern ihr Beitrag zur Stabilisierung ,ihrer’ Regierung.“
Auch aus verfassungsrechtlicher Perspektive habe Lammert mit dem Bruch der gängigen Praxis richtig gehandelt. „Bei festgesetzten Fraktionsredezeiten ist es der Bundestagspräsident, der für jeden Abgeordneten, der sich zu Wort meldet, über die Worterteilung befindet“, sagt Hans Hugo Klein, ehemaliger Bundestagsabgeordneter und Verfassungsrichter.
Verfechter der Demokratie
Freies Mandat, Rederecht und Fraktionen – das klingt ziemlich trocken, wenn man kein Jurist oder Politologe ist. Roman Herzog hat es dennoch geschafft, eine für unsere Demokratie unabdingbare Frage, nämlich inwieweit ein Abgeordneter das Recht hat, im Parlament seine Meinung zu äußern, so zu diskutieren, dass es auch für Normalbürger verständlich und vor allen Dingen interessant ist. Geschickterweise lässt Herzog nämlich nicht hauptsächlich Politiker oder Wissenschaftler, sondern Bürger als Vertreter des Volkes, zu Wort kommen.
Herzog macht außerdem darauf aufmerksam, dass die Beiträge so manche Gründe aufzeigten, „die uns so oft von Politik- bzw. Parlamentsverdrossenheit sprechen lassen“. Die Demokratie liegt dem einstigen Bundespräsidenten sehr am Herzen. Mit seinem Buch leistet er einen Beitrag, sie zu verteidigen.
Roman Herzog (Hrsg.): „'Oder gilt das nur in Demokratien?' – Freies Mandat, Rederecht und Fraktionen", Berlin University Press Verlag, Berlin 2012, 112 Seiten, 19,90 Euro, ISBN 978-3-86280-029-2
Romy Hoffmann ist Studentin der Politikwissenschaft und Philosophie an der Universität Regensburg. Im Frühjahr 2012 absolvierte sie ein Praktikum in der Redaktion des vorwärts.