Es ist ein Vergnügen, dieses Romandebüt zu lesen, mit der zentralen Figur und den vielen Nebenhelden leiden, vor allem aber lachen zu dürfen. Martin Horváth nimmt sich der Asylsuchenden an. Er nimmt die Leser mit zu Tausendundeinenacht-Geschichten, die in Wien spielen und ins Surreale abgleiten. Die Welt wird dabei nicht gerettet, jedenfalls nicht diejenige der Asylbewerber.
Hauptperson ist der 15-jährige Ali, der seine Augen und Ohren überall hat, aus dem Westen Afrikas stammt und, nach eigenem Bekunden, vierzig Sprachen spricht. Ein Kommunikationswunder, ohne Zweifel, das mit allen jungen und weniger jungen Frauen, seien es Leidensgenossinnen oder Betreuerinnen, scherzt und schäkert. Er versteht sie alle, kennt ihre Fluchtgeschichten und ihre Traumata und erzählt unentwegt welche: „Geschichten sind die Währung, mit der man hier seine Rechnung begleicht.“
„Ich habe nicht gewusst, dass du schon Österreicher bist“
In einem Interview hat der 1967 in Wien geborene freischaffende Musiker Martin Horváth Alejo Carpentier, Gabriel Garcia-Márquez und Julio Cortázar als seine literarischen Vorbilder genannt. Deren selbstverständliches Nebeneinander von Realität und Mythos habe er adaptiert. Ferner hätten ihn Guillermo Cabrera-Infante, Nabokov, Arno Schmidt und Thomas Bernhard inspiriert.
Die Emigranten in Horváths Buch, die den Weg ins – oft nur vermeintlich – rettende Ausland gefunden haben, bedienen sich selbst nicht selten der Stammtischklischees. Als eine Neue ins Flüchtlingsheim kommt, entspannt sich unter den bisherigen Bewohnern eine Diskussion. Woher sie komme? Afrim regt sich auf: „Ganze Afrikaner kommen zu uns.“ Doch wen meine er mit „uns“, fragt man ihn: „Ich hab’ nicht gewusst, dass du schon Österreicher geworden bist“. Ist er nicht und wird er so schnell auch nicht werden.
„Mohr im Hemd“ ist eine Süßspeise
„Mohr im Hemd“ ist übrigens eine österreichische Süßspeise und ebenso „politisch unkorrekt“ wie der „Mohrenkopf“ bei uns, dessen Umbenennung mancheiner mit der Liberalisierung der Praxis gegenüber Asylsuchenden verwechselt. Zu deren Verständnis trägt der Roman viel bei, aber auf eine scheinbar leichte Art, ohne erhobenen Zeigefinger. Horváth hat vor Ort mit Betreuten und Betreuern, mit Ärzten und Juristen gesprochen, Fachliteratur und Gesetzestexte studiert.
Herausgekommen ist ein Schelmenstück um Ali, ein moderner Simplicius Simplicissimus, der unangenehme Wahrheiten humoristisch verbrämt an den Mann und vor allem an die Frau bringt. Am bitteren Ende geht ihm die Phantasie durch: Er sieht die Insassen des Flüchtlingsheims zusammengetrieben und in eine Straßenbahn verfrachtet, wo sie der geballten Inkompetenz der Krawallzeitung (jawohl, eine solche gibt’s auch in Österreich) ausgesetzt werden. „Wien darf nicht Istanbul werden“, „Drogengeschäft fest in nigerianischer Hand“, „Wir sind kein Einwanderungsland“, so und so ähnlich lauten die Sprüche. Es kommt zu einem Massaker. Der einzige Überlebende der Aktion ist Ali, die andern sind erschlagen und werden in Blechsärgen abtransportiert.
So grausam geht es in der österreichischen Realität natürlich nicht zu. Abschiebehaft heißt die Vokabel nördlich, Schubhaft südlich der Alpen. Das Plädoyer, sich mit den „Mohren“ differenzierter zu befassen, sie nicht als Wohlstandsflüchtlinge wahrzunehmen, verdanken wir einem Autor, der hoffentlich noch manchen Roman zu Papier bringt. Schreib weiter, Martin Horváth.
Martin Horváth: „Mohr im Hemd oder Wie ich auszog, die Welt zu retten“, Deutsche Verlags-Anstalt, München 2012, 347 Seiten, 19,99 Euro, ISBN 978-3-421-04547-8
Matthias Dohmen hat Germanistik, Geschichte, Politologie und Philosophie studiert, arbeitet als freier Journalist und ist 2015 mit einer Arbeit über die Rolle der Historiker West und Ost im "deutschen Geschichtskrieg" promoviert worden.