Kultur

Fünf Tode sterben

von Anina Kühner · 4. Oktober 2012

Was ist ein Menschenleben? An welchen Weggabelungen biegt man ab, wo hält man inne? Dass Leben und Tod nur einen Schritt voneinander entfernt sind, ist die Kernbotschaft von Jenny Erpenbecks großartigem Roman „Aller Tage Abend“.

Es ist ein unglaublich stilles Buch, trotz der bewegten Geschichte, die „Aller Tage Abend“  erzählt. Fünf Mal lässt die Autorin ihre Hauptfigur sterben, immer in unterschiedlichen Phasen des Lebens: Als Baby, als Teenager, als Frau – und niemals erscheint es weniger tragisch. Getrennt sind die fünf „Bücher“ durch Intermezzi, in denen die Autorin mit dem Zufall spielt: Was wäre wenn? Was, wenn die Figur nach rechts statt nach links abgebogen wäre im winterlichen Wien der 1920er Jahre und so ihrem Mörder nicht begegnet wäre? Was, wenn der sowjetische Offizier ihren Namen nicht verwechselt hätte und sie nicht im sibirischen Straflager gelandet wäre?

Hundert Jahre Leben

In der letzten Variante ihres Lebens hat die Heldin das gesamte zwanzigste Jahrhundert durchlebt: Geboren in Brody, Ukraine, geflohen nach Wien, von dort nach Moskau und nach dem Zweiten Weltkrieg in Berlin gelandet. Jenny Erpenbeck gibt einen Querschnitt durch die tragische Geschichte dieser hundert Jahre, die der Lebensdauer ihrer Hauptfigur in der letzten Episode entsprechen.

Die jüdische Identität der Protagonistin, das Gefühl der Verlorenheit und Heimatlosigkeit dringen zwischen den Zeilen durch. Genau wie die Enge des kommunistischen Systems in Russland, in dem alle Ideale langsam an der Realität zerbrechen: „Sie hatte gedacht, wie flach das Wasser in diesem See war. Riesig war er, aber beim Baden im Sommer stand einem das Wasser an keiner Stelle höher als bis zum Hals.“

Der letzte Gedanke

Zu Beginn erscheint die Hauptfigur kaum greifbar, sie hat keinen Namen und ist einfach nur „sie“. Erst im Laufe des Romans nimmt sie Kontur an: Sie wird „Frau H.“, schließlich „Lisa Fahrenwald“, der Mädchenname, und am Ende sitzt „Frau Hoffmann“ im Altersheim. Es ist, als würde man das Objektiv einer Kamera scharf stellen und erst ganz am Ende des Romans die wahre „Frau H.“ erkennen.

Jenny Erpenbeck setzt sich intensiv mit dem Tod auseinander. Was bedeutet er für denjenigen, der stirbt und für jene, die ihn umgeben? „Aber die Dinge, die zum letzten Mal passiert sind, ohne dass es das letzte Mal hieß, hat die Zeit verwischt“, heißt es da. Wann reiche ich meinen Nächsten zum letzten Mal die Hand, schließe das letzte Mal die Tür hinter mir? Was wird das letzte sein, das ich denke? Im Fall von „Frau H.“ ist in der vierten Episode ein Treppensturz die Ursache ihres Todes. Was die Autorin ihr durch den Kopf schickt, ist so genial wie tragikomisch: „Jetzt ist sie zum ersten Mal tatsächlich ein gefallenes Mädchen, und wenn es nicht zum Sterben wäre, müsste sie lachen.“

Hoffnungsvolle Botschaft

Was der Tod eines Menschen für die ihm Nahestehenden bedeutet, zeigt Erpenbeck jedes Mal erneut, wenn „Frau H.“ stirbt: Für ihre Eltern ist der Verlust des Babys Katastrophe ihres Lebens – die Mutter wird zur Prostituierten  der Vater macht sich nach Amerika davon. Auch der Tod der Hundertjährigen ist für ihren Sohn schier unerträglich: „Und dort wird er weinen, wie er noch nie geweint hat, und dennoch wird er sich, während ihm der Rotz aus der Nase läuft, und er seine eigenen Tränen verschluckt, fragen, ob diese merkwürdigen Laute und Krämpfe wirklich alles sind, was dem Menschen gegeben ist, um zu trauern.“

Jenny Erpenbecks Roman ist ein Meisterwerk. Leise, aber mit unglaublicher Sprachgewalt nähert sie sich den existentiellen Fragen des Lebens, ohne jemals ihre Figuren aus dem Blick zu verlieren. Zum Schluss bleibt eine hoffnungsvolle Botschaft übrig: „Am Ende eines Tages, an dem gestorben wurde, ist längst noch nicht aller Tage Abend.“

Jenny Erpenbeck: „Aller Tage Abend“, Albrecht Knaus Verlag, München 2012, 288 Seiten 19,80 Euro, ISBN 978-3-89965-510-0

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Anina Kühner

studiert Germanistik und Buchwissenschaften in Mainz. Im Sommer 2012 absolvierte sie ein Praktikum beim vorwärts.

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