Kultur

Freistatt: Willkommen in der Sklaverei

Draußen gerät einiges in Bewegung, doch drinnen herrscht der alte dunkle Geist: Auf der Grundlage von Tatsachen erzählt das packende Drama „Freistatt“ vom systematischen Terror in den Erziehungsheimen der frühen Bundesrepublik.
von ohne Autor · 26. Juni 2015
Der Neue in Freistatt: Wolfgang (Louis Hoffmann) hat Probleme, Teil der Masse zu sein.
Der Neue in Freistatt: Wolfgang (Louis Hoffmann) hat Probleme, Teil der Masse zu sein.

Ihre Widersprüchlichkeit macht die späten 60er-Jahre so faszinierend: Freier Sex, Drogen und ekstatische Rock-Sounds beflügelten nicht nur die westdeutsche Jugend. Gleichzeitig wurden den Aufbegehrenden kräftig die Flügel gestutzt. In den Schulen herrschte noch Zucht und Ordnung. Erst recht in Erziehungsheimen. Und Mutti stand folgsam am heimischen Herd, anstatt sich zuzudröhnen. Auch von diesem Konflikt aus neuen und tradierten Lebenswirklichkeiten erzählt „Freistatt“.

Härtestes Heim - als Zwangsarbeiter ausgebeutet

Über Jahrzehnte galt jenes Heim inmitten einer Moorlandschaft als eine der härtesten der Einrichtungen der sogenannten Jugendfürsorgeerziehung. Dem trägt der Film Rechnung: Nach dem freundlichen Empfang durch den Hausvater landet Wolfgang in einem Sumpf der Gewalt. Und das im doppelten Sinne. Zunächst bekommt es der Aufmüpfige mit der brutalen Hierarchie unter seinen völlig rechtlosen Leidensgenossen zu tun. Wie im Gefängnis scheint eine unsichtbare Hand die Alphatiere der Gruppe immer wieder auf ihn zu hetzen. Außerdem offenbart sich ihm der wahre Zweck des Hauses: Tagaus tagein müssen die Jungs zum Torfstechen antreten. Mit handbetriebenen Lorenwagen geht es raus ins schier endlose Moor. Dort werden die Halbwüchsigen, denen eine Ausbildung versprochen worden war, als Zwangsarbeiter ausgebeutet. Nicht nur das Regiment, das der so unbeholfene wie sadistische Bruder Wilde dort pflegt, erinnert an braune Lager-Traditionen. Je mehr sich Wolfgang auflehnt, desto stärker wird der Drang der anderen, ihn zu brechen. Irgendwann erscheint die Flucht mit seinem einzigen Verbündeten als der letzte Ausweg. Doch all dem Erlittenen kann man nicht so einfach davonlaufen.

Mit einem gelungenen Mix aus Emotionalität und subtiler Action erweckt dieses Drama einer Jugend eine beunruhigende Vergangenheit wieder zum Leben. Die Entwicklung der hervorragend besetzten Haupt- und Nebenfiguren sorgt bis zum Schluss für Spannung. Sich in ein System der Gewalt und Willkür einfügen, heißt eben auch, sein bisheriges Leben, mithin seine Kindheit, an der Pforte abzugeben. Und doch bricht nicht nur bei Wolfgang immer wieder auch das verletzliche und schutzbedürftige, von Heimweg geplagte Kind durch. Hauptdarsteller Louis Hoffmann wurde für seine großartige Leistung mit dem Bayerischen Filmpreis ausgezeichnet. Und auch jene, die die Zöglinge immer wieder mit drakonischen Strafen überziehen, sind von einer verstörenden Doppelbödigkeit, die tiefe Abgründe offenbaren. Allen voran Alexander Held als jovialer wie kaltblütiger Hausvater Brockmann, der Jugendliche mit Setzlingen vergleicht, die man nur ordentlich einpflanzen muss. Und schließlich Stephan Grossmann alias Bruder Wilde: Dessen brutale Willkür und Unsicherheit lassen erahnen, was die vielen ungeschulten Heimerzieher im wahren Leben für Schäden hinterließen.

Bedrohliche und bedrückende Atmosphäre

So behutsam die Figuren auch gezeichnet werden: Mit körperlichen Exzessen und entsprechenden Effekten geizt Regisseur Marc Brummund nicht. Ohrenbetäubende Schläge oder ebensolches Gebrüll gibt es reichlich, ohne allerdings überstrapaziert zu werden. Es sind Kontraste zu einer ansonsten bedrohlichen und bedrückenden Atmosphäre. Diese ist nicht zuletzt der dynamischen und expressiven, bisweilen traumwandlerischen Bildsprache zu verdanken. In einem Moment bricht sich das Sonnenlicht in den Moorwäldern, die an den bis heute erhaltenen Originalschauplatz grenzen. Wenig später erscheint die Szenerie in gänzlich anderem Licht – wie ein Spiegel der Stimmung im Heim.

Brummund ließ sich für seinen Film, der beim Max Ophüls Preis zweimal gewürdigt wurde, von der wissenschaftlichen Aufarbeitung des lange Zeit tabuisierten Themas inspirieren und sprach selbst mit vielen Zeitzeugen. Wer verstehen will, was die Barbarei unter dem Banner der christlichen Fürsorge  konkret bedeutete, gewinnt in „Freistatt“ wichtige Denkanstöße,wenngleich die Geschichte aus sich selbst heraus lebt.

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