Der Terror der RAF ist ein Kapitel der deutschen Geschichte, das keineswegs abgeschlossen ist. Die Diskussionen um Brigitte Mohnhaupt und Christian Klar im letzten Jahr zeigten einmal mehr
wie groß die Betroffenheit noch sei, betont Emcke. Drei Generationen Deutsche hätten sich mit und gegen die RAF sozialisiert. So sei die Aufklärung der Verbrechen, die sie so vehement fordert, ein
gesamtgesellschaftliches Interesse.
Raum des Schweigens
"Es schafft einen ganz eigenen Raum um sich herum, dieses Schweigen, in den werden wir eingeschlossen: Täter wie Opfer zugleich", schreibt die Autorin. Menschen müssen ihre Erfahrungen in
eine Geschichte betten. - Und genau diese verweigere die "stumme Gewalt" des Terrors, die nichts erklärt.
Sie will die Geschichte der Täter hören, auch wenn die Wahrheit bitter ist. Carolin Emcke will das auch als Angehörige: Sie ist das Patenkind des RAF-Opfers Alfred Herrhausen. Auch darüber
schreibt sie in ihrem eindringlichen Essay, "weil nur ein Ende des Schweigens fordern kann, wer selbst zu sprechen bereit ist". Denn das Schweigen sei es, das sie bis heute unverzeihlich finde.
Jetzt sollen die Täter sprechen, sich erklären und sich der Kritik stellen. "Erst im öffentlichen Sprechen eröffnet sich das Politische jenseits des Vokabulars des Krieges", heißt es im Buch.
Möglichkeit zur Verständigung
Die Bedingungen für ein Ende des Schweigens müssten "wir" - die Gesellschaft - herstellen. "Freiheit gegen Aufklärung. Amnestie für ein Ende des Schweigens", so müsste die Einladung zum
Dialog laut Emcke heißen. Und wenn sie trotzdem nicht mit uns sprechen? Jede Offenheit, jedes Angebot berge die Gefahr enttäuscht zu werden, dessen ist sich die Autorin bewusst. Aber was würde es
über uns aussagen, wenn wir die Überzeugung auf die Möglichkeit zur Verständigung von vorneherein ausschlössen? Es sei feige und falsch, schon im Vorfeld anzunehmen, dass nichts passiert.
Und das rechtsstaatliche Bedürfnis nach Strafe? Die Bundesrepublik zeige keine Schwäche, wenn sie auf ihr Recht auf Strafe verzichte, unterstreicht Emcke. Der Staat akzeptiere nur die Grenze
der Rechtsstaatlichkeit. Und eröffne damit die Möglichkeit die Ungewissheit, die Unabgeschlossenheit der Geschichte zu beenden.
Suche nach Antworten
Denn mit den Mitteln der Bundesanwaltschaft werden die fünf unaufgeklärten RAF-Morde, die es bis heute gibt, nicht mehr geklärt werden können, unterstreicht die Autorin. Eine Ablehnung der
vorgeschlagenen Amnestie bedeute eben keine Bestrafung der Täter. Wenn es überhaupt eine Wahl gebe, so Emcke, dann jene zwischen Aufklärung und Verschleierung, zwischen radikaler Öffentlichkeit und
geduldetem Schweigen. "Damit wären die Verbrechen nicht vergessen. Damit wären die Taten nicht verharmlost", betont sie im Buch.
Ist Emckes Forderung eine Illusion? Macht sie sich lächerlich? Möglich. Der Autorin ist klar, dass ihr Vorschlag Widerspruch hervorrufen wird. Sie stellt Fragen - an sich selbst und an die
Gesellschaft. Entlang dieser vielen Fragen entwickelt die Autorin ihre Gedanken. Und sie sucht Antworten. Es ist ein umsichtiger, hellsichtiger Text, den Emcke vorlegt. Ihr Vorschlag birgt die
Möglichkeit der Enttäuschung. Aber was ist die Alternative?
Reagieren auf Terror
Nicht zuletzt leben wir wieder in Zeiten des Terrors. Wieder müssen wir uns der Gewalt stellen - ohne darauf mit Gewalt zu reagieren. Denn unsere Souveränität, unser demokratisches, liberales
Selbstverständnis verlören wir mehr in unserer Antwort auf den Terror, als durch den terroristischen Akt selbst. Und hier ist die Autorin sicher: Getrieben vom Zorn werden wir weder die Gewalt von
heute, noch jene von gestern überwinden. Der Zorn offenbare lediglich die eigene Schwäche.
Im "Zeit"-Magazin hat Emcke erstmals über ihre persönliche Betroffenheit geschrieben, hat sich als Angehörige eines RAF-Opfers gezeigt. Und sie hat begonnen, öffentlich über die RAF
nachzudenken. Der Text wurde mit dem Theodor Wolff-Preis ausgezeichnet. Für die Autorin hat er eine Schleuse geöffnet. Ein regelrechter Sog habe sich entwickelt, erklärte sie in Berlin, schnell sei
der Text auf Buchlänge angewachsen. Das Buch ist eine bereichernde Lektüre. Es ist eine Herausforderung an die Gesellschaft. Und vielleicht eine Möglichkeit zur Aufklärung.
Birgit Güll
Carolin Emcke: Stumme Gewalt. Nachdenken über die RAF. Mit Beiträgen von Winfried Hassemer und Wolfgang Kraushaar, 192 Seiten, 16,90 Euro, ISBN 978-3-10-017017-0
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