Folter als Teil der Familiengeschichte: Geboren im iranischen Gefängnis
Real Fiction
Als während einer Busfahrt in Marokko gesungene Koransuren aus dem Radio tönen, bekommt Maryam Zaree Schweißausbrüche und rasende Kopfschmerzen. Später wird sie ihrem Vater davon berichten. Und der hat die Erklärung: Im berüchtigten Evin-Gefängnis in Teheran bestand eine der unzähligen Foltermethoden darin, die Inhaftierten, darunter viele Intellektuelle und Regimegegner, unablässig mit Suren aus dem Koran zu penetrieren. Zarees Vater muss es wissen: In den 80er-Jahren saß er selbst dort ein und wartete auf seine Hinrichtung. Dort wurde auch seine Tochter geboren.
In Marokko wurde die damals 22-Jährige von ihrer einzigen bewussten Erinnerung an die Haft eingeholt. Nach zwei Jahren wurde sie damals gemeinsam mit ihrer Mutter entlassen. Seitdem leben die beiden in Deutschland, der Vater kommt erst Jahre später hinterher. Über das, was die Eltern im Knast der Mullahs durchlitten, wird zuhause nicht gesprochen. Nur, weil es ihrer Tante herausrutscht, erfährt Maryam Zaree mit zwölf Jahren, dass sie hinter Gittern das Licht der Welt erblickt hat, ohne dazu eigene Bilder im Kopf zu haben.
Eigene Biografie gegen Migranten-Klischees
Irgendwann hielt die heute 36-Jährige, die derzeit in dem Kinofilm „Systemsprenger“ zu sehen ist, die Sprachlosigkeit und die Leerstellen in ihrem Gedächtnis nicht mehr aus. Vor vier Jahren begann sie, die Umstände ihrer Geburt und die Gründe für das Schweigen ihrer Mutter zu erforschen. Es ging ihr dabei nicht nur um ihre persönliche Geschichte, sondern auch darum, in einem größeren Rahmen die Traumata der zweiten Generation von Verfolgten zu thematisieren und andere Betroffene dazu zu ermutigen, das Schweigen über derlei Erfahrungen auch in ihrer Familie aufzubrechen. Hinzu kam, wie sie kokettierend bemerkt, auch das Bedürfnis, mit den klischeehaften Migranten-Rollen, die ihr in TV-Krimis immer wieder angeboten werden, zu brechen und ihre eigenen Wurzeln zu erforschen
Die Eltern der Regisseurin willigten ein, in dem Film aufzutauchen. Doch dann, wenn Zarees Fragen das eigentliche Thema berühren, kann sich der Vater nicht erinnern. Und die Mutter schweigt. So war Zaree gezwungen, den Kreis der Interviewpartner zu erweitern. Nicht nur im Verwandtenkreis, sondern auch in der weltweit verstreuten iranischen Exil-Community. Immer wieder suchte sie das Gespräch mit ehemaligen Häftlingen oder deren Kindern.
Im Film findet sich manche bewegende Gesprächssequenz, doch in der Sache selbst kommt die Regisseurin, die zugleich Protagonistin ist, kaum weiter. Denn auch die Nachkommen der Leidensgenossen ihrer Eltern geben nur wenig preis. Eher zeitigen sie jene Trauma-Symptome, die Zaree als Psychologentochter vorab bewusst waren. So formt sich ein diffuses Bild, wie ihr Alltag als Baby im Gefängnis ausgesehen haben könnte. Ebenso zeichnet sich ab, warum ihre Mutter Nargess Eskandari-Grünberg, die heute als Psychologin und Kommunalpolitikerin in Frankfurt am Main tätig ist, die dunklen Tage hinter sich lassen wollte, als sie mit ihrer Tochter in der Bundesrepublik ein neues Leben begann.
In einer überfüllten Zelle geboren
Immerhin berichtet eine frühere Gefangene davon, mit wie viel Liebe Zaree als Neugeborene von den gut 60 Frauen in der überfüllten Zelle begrüßt wurde. Im Zuge ihrer Recherche, die sie unter anderem nach Paris und Kalifornien führt, reist sie zu einem Iran-Tribunal von Menschenrechtsaktivisten in den Niederlanden. Dort wird sie mit unfassbaren Beispielen der Grausamkeit im Evin-Gefängnis konfrontiert. Das macht ihre Wissenslücken noch unerträglicher.
Zaree will ihren Film nicht als Selbsttherapie verstanden wissen, aber zweifellos kann von einer Selbsterforschung die Rede sein. Und gerade darin liegt das Bewegende von „Born in Evin“. Auf der Faktenebene fördert Zaree nur wenig zutage, auch der Anspruch eines größeren Blickwinkels wird kaum eingelöst. Jedoch macht die Dokumentation den Schmerz erfahrbar, den dieses Graben in der Vergangenheit, die zu einem bedeutenden Teil ja auch Gegenwart ist, mit sich bringt. Vielleicht liegt darin sogar etwas Befreiendes.
Wenn Zaree oder die Mutter um Fassung ringen, hält die Kamera trotzdem drauf. Die Energie dieser eigentlich privaten Momente tragen zu der enormen Intensität dieses Dokumentarfilms bei, der bei der Berlinale und mit weiteren Preisen ausgezeichnet wurde. Diese Szenen, die gerade auch vom Nichtgesagten leben, machen deutlich, dass Zarees Reise zu sich selbst noch lange nicht beendet ist. Bleibt zu hoffen, dass dieser Film, der letztlich ein Plädoyer für Hoffnung ist, auch andere Menschen ermutigt, sich ihren Dämonen zu stellen.
„Born in Evin“ (Deutschland/Österreich 2019), ein Film von Maryam Zaree, mit Maryam Zaree, Nargess Eskandari-Grünberg u.a., 95 Minuten. Im Kino.