Flüchtlinge als letzte Hoffnung
Ob sterbende Dörfer, Armut oder Korruption: Der bulgarische Filmemacher Stephan Komanderev setzt im echten Leben ganz klar auf die Jugend, wenn es darum geht, die drängenden Probleme seines Landes anzugehen. Seine Generation sei viel zu sehr von der Zeit des real existierenden Sozialismus geprägt, so der 1966 geborene Regisseur. Eine Haltung, die ob seines nun eben nicht gerade biblischen Alters erstaunt.
In seinem Drama „Judgement“ setzt er sie konsequent um.
Erst vor kurzem haben sich die Schüler Vasko und Maria angefreundet, doch rasch wirken sie wie Seelenverwandte. Inas Mutter arbeitet seit Jahren in Italien. Vaskos Vater Mityo hat soeben seinen Job als Milchfahrer verloren. Und wohl auch seinen Glauben an eine Zukunft in dem vergessenen Landstrich kurz vor der türkischen Grenze. Erst als dem verschuldeten Mittvierziger droht, das Dach über dem über dem Kopf zu verlieren, erwacht in ihm der Aktivismus. Schweren Herzens nimmt er einen Job bei dem verhassten Patron dieses Landstrichs, genannt Kapitan, an – ist ihm doch bewusst, dass diese Arbeit, für die sein Lastwagen und die Grenznähe essenziell sind, am Ende nichts Gutes bringen wird.
Brennender Idealismus
Es sind auch die Fragen seines 18-jährigen Sohnes, wie es mit der Familie – die Mutter ist kurz zuvor verstorben – soweit kommen konnte, die ihn antreiben. Wie auch Maria sucht Vasko nach einem eigenen Weg ins Erwachsenenleben. Während die junge Frau längst alle Illusionen aufgegeben hat, brennt in ihm noch der Idealismus. Unter den meisten Erwachsenen gedeihen dagegen Angst und Resignation.
„Wenn man alles weiß und sich an alles erinnern kann, da dreht man doch durch!“, sagt Maria. Um diesen Punkt dreht sich letztendlich der gesamte Film. Als junger Mann diente Mityo in jener Gegend bei den Grenztruppen. Bulgariens Grenze zur Türkei und zu Griechenland wurde in Zeiten des Kalten Kriegs schärfstens bewacht. Trotzdem wagten viele DDR-Bürger von hier die Flucht in den Westen. Rund 100 von ihnen wurden, so Schätzungen, beim illegalen Grenzübertritt erschossen, etliche wurden irgendwo verscharrt. Das ist der reale Hintergrund für Mityos dunkelstes Armee-Kapitel. Eines Tages wird er in einen tödlichen Zwischenfall mit einem ostdeutschen Paar verwickelt. Es gelingt ihm, das Geschehene in einer entlegenen Schublade seines Ichs zu verstecken.
Ausgerechnet sein neuer Job beim Kapitan, dem Armee-Hauptmann von damals, wühlt die Vergangenheit wieder auf. Dieser Mann geriert sich noch immer als Herr über die Grenze n und nutzt es schamlos aus, dass die Flüchtlingsströme seit einigen Jahren in umgekehrter Richtung verlaufen. Als Schlepper verdient er sich eine goldene Nase. Mityo soll mit ran, um die Menschen nach Bulgarien zu lotsen. Auf dem „Judgement“ (Urteil) genannten Berg, wo beide schon zu Armeezeiten gemeinsam unterwegs waren, kommt es zum Showdown.
Als hätte sich Marias warnender Satz über das Wissen um das Vergangene bewahrheitet: In Mityos Fall bahnt die Vergegenwärtigung der Ereignisse, die ihn mit dem Kapitan verbinden, den Weg vom Drama zur Tragödie. Eine Entwicklung, die Hauptdarsteller Assen Blatechki mit zurückgenommenen Spiel umso eindringlicher transportiert. Auch der sonst oft extrovertiert agierende Miki Manojlović („Underground“) macht den herrischen Ex-Hauptmann mit sparsamen Ausbrüchen umso interessanter, weil undurchsichtiger.
Viel gewollt
Die soziale Misere auf dem sich entvölkernden Land, zerstörte Familien, Coming of Age, Flüchtlingsdrama, Schlepper-Kriminalität und die langen Schatten der Spaltung Europas in Ost und West: Komanderev beackert in seinem in Bulgarien mit Preisen überhäuften Film etliche Felder. Über den Ertrag dieses angesichts der Themenfülle mit 107 Minuten nicht gerade überlangen Films lässt sich hingegen streiten. Zwangsläufig kann nicht jeder Aspekte in gleicher Intensität beleuchtet werden. Mitunter wirkt das Ganze arg überladen.
Andererseits macht das angenehm unaufgeregte Drama deutlich, wie in einer kriselnden Transformationsregion, die zum Schauplatz von immer größeren Flüchtlingsströmen wird, alles mit allem zusammenhängt. Gerade die subtile Beiläufigkeit, mit der Komanderev das Leben in einer Region, wo von den meisten landwirtschaftlichen Betrieben nur Ruinen geblieben sind, erzählt, nimmt einen für den Film ein. Zusammengehalten wird das Ganze von einer atmosphärischen, aber unpathetischen Bildsprache, die menschenleere Dorfstraßen mit freilaufenden Hühnern und die monumentale Bergwelt zu intensiven Szenen mit zum Teil dokumentarischem Anstrich verdichtet. Wer weiß schon, was bleibt, wenn sich der dampfende Morgennebel über den Rhodopen verzogen hat?
Info:
„Judgement – Grenze der Hoffnung“ (Deutschland, Bulgarien, Kroatien, Mazedonien 2014), ein Film von Stephan Komanderev, mit Assen Blatechki, Miki Manojlović,
Ovanes Torosian, Ina Nikolova u.a., 107 Minuten
Ab sofort im Kino