Kultur

Filmtipp „Wo ist Anne Frank?": Was ihr Tagebuch heute bedeutet

Ihr Tagebuch schrieb Anne Frank für eine imaginäre Freundin. In dem Animationsfilm „Wo ist Anne Frank?“ erwacht Kitty zum Leben. Mit ihr verfolgen wir Annes letzte Lebensstationen und erleben, was das Tagebuch den Menschen von heute zu sagen hat.
von ohne Autor · 24. Februar 2023
Auf der Suche nach der Freundin: Kitty vertieft sich in das weltbekannte Tagebuch.
Auf der Suche nach der Freundin: Kitty vertieft sich in das weltbekannte Tagebuch.

Animationsfilme können Dinge sichtbar machen, die nur in der Fantasie existieren oder für die es keine adäquaten realen Bilder gibt. Dass die ästhetische Form und Effekte die eigentliche Handlung überlagern, zählt zu den Schwachstellen dieses Genres.

Eine neue Sicht auf ihre Schicksal

Man darf sagen, dass Letzteres bei „Wo ist Anne Frank?“ nicht der Fall ist. Wohl aber bietet die internationale Koproduktion eine komplett andere Sicht auf das Schicksal des jüdischen Mädchens, dessen Tagebuch aus der Zeit des Holocausts zum Vermächtnis geworden ist.

Kitty hieß die imaginäre Freundin, der Anne in ihrem Versteck in Amsterdam ihre Ängste und Sehnsüchte, aber auch pointierte Einblicke in den Alltag und Charakterstudien anderer Menschen in dieser totalen Isolation anvertraute. In diesem Film erwacht Kitty während einer Gewitternacht wie von Zauberhand zum Leben. Und zwar genau dort, wo Anne ihr Tagebuch schrieb. In dem Gebäude, das für die Familie Frank am Ende zur Falle wurde, befindet sich heute ein Museum, das Anne-Frank-Haus.

Mit dem Blick der Freundin

Es dauert eine Weile, bis sich Kitty in der unvertrauten Gegenwart zurechtfindet. Immer wieder vertieft sie sich in Annes Tagebuch. Es wird zu ihrem Lebenselixier. Und es stellt die Verbindung zur schmerzlich vermissten Freundin her. Mit Kittys Hilfe erkunden wir Annes Innenleben. Ihre Gedanken und Erinnerungen erfahren wir aus der Perspektive ihrer engsten Vertrauten. Beim Sprung in die Vergangenheit sind die beiden Mädchen immer wieder im Dialog miteinander zu erleben.

Doch warum fehlt Anne in der Gegenwart? Wieso endete ihr Tagebuch im Jahr 1944? Und was soll ohne ihre Freundin in der Welt von heute aus ihr werden? Kitty hat Fragen, auf die sie aus eigener Kraft keine Antworten findet. Gemeinsam mit einem Jungen begibt sie sich auf eine Spurensuche, die bis ins ehemalige Konzentrationslager Bergen-Belsen führt. Dort fanden Anne und ihre Schwester Margot Anfang des Jahres 1945 den Tod.

Die wahre Botschaft ihres Tagebuchs

„Wo ist Anne Frank?“ basiert auf Anne Franks Tagebuch sowie auf dessen „Graphic-Diary“-Fassung und der gleichnamigen Graphic Novel. Der israelische Regisseur und Drehbuchautor Ari Folman war an beiden Graphic-Formaten beteiligt. Sein neuer Animationsfilm wurde vom Anne Frank Fonds in Basel angestoßen. Ihm obliegen die Rechte am Nachlass Anne Franks und ihrer Familie. Acht Jahre verbrachte ein internationales Team mit Animationen und Archivrecherchen.

Dabei ist ein Film herausgekommen, der unter anderem das erzählt, was Anne Frank nicht mehr erzählen konnte. Der aber auch dazu ermuntern soll, jenseits all der Musealisierung und Instrumentalisierung der historischen Figur Anne Frank die wahre Botschaft ihres Tagebuchs zu erkennen und zu leben. Nämlich auch in schwierigen Zeiten Mensch zu bleiben und für (andere) Verfolgte einzutreten.

Sprünge zwischen damals und heute

Dieses Anliegen wird mit einer Handlung verwoben, die nicht nur für die Hauptadressaten des Films – also Kinder und Jugendliche – spannend und berührend ist. Mit großer Sorge verfolgt Kitty, wie Geflüchtete in der Gegenwart ausgegrenzt und drangsaliert werden. Im Laufe der turbulenten Handlung bekommt auch sie es mit den Sicherheitsbehörden zu tun. Fieberhaft sind diese hinter dem verschwundenen Tagebuch her. Für Kitty wird dieses Ausstellungsstück zu einem Werkzeug, um ein moralisches Zeichen zu setzen.

Nicht jeder zeitliche Sprung zwischen Annes Leben unter deutscher Besatzung und der von Migration aus Kriegsgebieten geprägten Gegenwart ist auf der reinen Erzählebene rundum gelungen. Das lässt sich auch von der Entwicklung der Handlung im Jetzt sagen. Auf der optischen Ebene funktioniert das Ganze sehr gut. Durch Metamorphosen und andere spielerische Elemente werden immer wieder überraschende Bezüge hergestellt und Wendungen eingeleitet. Bestimmend bleibt aber eine am Realismus orientierte Bilderwelt. Was auch daran liegt, dass einige Animationen auf Fotos basieren.

Kritik und Satire auf Vereinnahmung Anne Franks

Auffallend ist, wie kritisch und satirisch der Film, der im letzten Jahr in Cannes seine Premiere feierte, mit der Vereinnahmung Anne Franks durch Politik und Kulturwirtschaft umgeht: bis hin zur Stilisierung der Suche nach dem Tagebuch zu einer Frage der nationalen Sicherheit. Kitty und der Film machen deutlich, dass es nicht darauf ankommt, ein Tagebuch in einer Vitrine verschwinden zu lassen, sondern das zu vermitteln, was hinter diesem erschütternden, aber auch aufmunternden Selbstzeugnis steckt. Von dieser mit einem satten, aber gesunden Maß an Fantasie umrahmten Essenz sollten sich nicht nur junge Kinozuschauer*innen berühren lassen. Zumal in Zeiten von Kriegen, Flüchtlingsbewegungen und zunehmender Hetze von rechts.

Die Kinovorführungen von „Wo ist Anne Frank?“ werden von einem breiten Bildungsprogramm für Schulen begleitet. Informationen dazu gibt es online.

Info: „Wo ist Anne Frank?" (Belgien, Frankreich, Niederlande, Luxemburg, Israel 2021), Drehbuch und Regie: Ari Folman, Art Director: Lena Guberman, 104 Minuten, ab sechs Jahre
https://www.whereisannefrank.com/de
Im Kino

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