Filmtipp „Wir könnten genauso gut tot sein“: Im Reich der Angst
HEARTWAKE
Wie heißt es doch so schön: Angst ist kein guter Ratgeber. Ganze Gesellschaften kann sie ins Verderben stürzen. Nicht selten bildet sie den Keim für irrationalen politischen Extremismus und den Hang, all das auszugrenzen, was nicht ins Schema passt. Geschichte und Gegenwart bieten unzählige Beispiele. Die Angst ist in jedem von uns tief verankert. Schließlich ist sie auch ein Überlebensinstinkt. Sich davon nicht beherrschen zu lassen, zählt zu den großen Herausforderungen des Lebens.
Welche Dynamiken entstehen können, wenn ganze Gruppen oder Milieus in die Angst abdriften, davon erzählt der Film „Wir könnten genauso gut tut sein“. Schauplatz der Handlung ist ein einsames Hochhaus irgendwo im Grünen in Deutschland. Dort und in einem weitläufigen – und selbstverständlich umzäunten Garten – haben sich Menschen verschanzt, die mit der vermeintlich bedrohlichen Welt jenseits der Absperrung nichts zu tun haben wollen. Die Wohnungen sind heiß begehrt. Neue Mieter*innen werden gründlich durchleuchtet. Innerhalb dieser Gated Community gelten strenge Regeln bis hinein ins Privatleben.
Mieter*innen bilden Bürgerwehr
Dafür zu sorgen, dass alles seinen korrekten Gang geht, ist die Aufgabe von Anna. Unablässig und mit unbewegter Miene ist die Sicherheitsbeauftragte in dieser kleinen Welt unterwegs. Dabei ist sie stets auch eine nüchterne Stimme der Vernunft. Als eines Tages ein Hund vermisst wird, beginnt die Situation zu kippen. Hausbewohner*innen bilden eine Bürgerwehr.
Wie missliebige Hausbewohner*innen, die gegen Regeln verstoßen, findet sich auch Anna trotz ihrer mächtigen Position plötzlich auf der „anderen Seite“ wieder. Zunehmend wird deutlich, dass sie als Migrantin aus Osteuropa mit einer psychisch labilen Tochter ohnehin misstrauisch beäugt wird. Die tolerante Fassade der multikulturellen und elitären Community bekommt Risse.
Sozialsatire auf das Wohlstandsmilieu
Im Kern ist dieser Film als Sozialsatire auf gegenwärtige, von Angst getriebene Wohlstandsmilieus zu begreifen. Das macht schon das Setting in dem besagten Hochhaus deutlich. Regisseurin und Co-Drehbuchautorin Natalia Sinelnikova nutzt aber auch Elemente von Thriller und Dystopie sowie absurde Stilmittel für ihre Geschichte um Zugehörigkeit, Ausgrenzung und das Ringen um Wahrheit. Dieser Mix lockert den formal sehr strengen Film auf und sorgt immer wieder für Überraschungen.
Im Mittelpunkt steht das Drama um Anna. Trotz ihrer langjährigen Hingabe für die Gemeinschaft sieht sie sich unverhofft einem Scherbenhaufen gegenüber. Dass ihre Tochter sich im Bad verbarrikadiert, weil sie befürchtet, ansonsten andere Mieter*innen ins Verderben zu stürzen, macht ihr zunehmend prekäres Dasein nicht einfacher. Die rumänische Schauspielerin Ioana Jacob (unter anderem bekannt aus „Mir ist es egal, wenn wir als Barbaren in die Geschichte eingehen“) bringt uns diese willensstarke, aber zunehmend verunsicherte Frau sehr nahe. Andere Figuren, sogar der von Jörg Schüttauf verkörperte Hausmeister, agieren dagegen hölzern und blass.
Eine nur scheinbar heile Welt
Dass Annas Erfahrungen mit Ausgrenzung und Vorurteilen ebenso subtil wie eindringlich geraten sind, hat auch mit Natalia Sinelnikovas persönlicher Geschichte zu tun. Als jüdische Kontingentflüchtlinge kam ihre Familie in den 90er-Jahren von Russland nach Deutschland. Die heute 33-Jährige erinnert sich daran, wie es war, in einer scheinbar heilen Welt nicht dazuzugehören. Ihr Langfilmdebüt, das bei der Berlinale lief, soll aber auch als Kommentar zu einem größeren Kontext verstanden werden. Gemeint ist eine immer mehr um sich greifende Intoleranz – auch gegenüber anderen Meinungen – insbesondere in der deutschen Gesellschaft.
All das in einem Hochhaus zu verdichten, folgt einem besonderen Konzept. „Das Hochhaus als Ort eignet sich gut für eine dystopische Erzählung, weil man gut über Gemeinschaft auf engem Raum erzählen kann und darüber. welche Ventile sich Angst sucht“, sagt Sinelnikova laut Verleih. „Uns war wichtig, dass wir das auf einen Ort begrenzen, an dem sich das alles hochschaukelt und dass dieser Ort isoliert ist von der anderen Welt. So stehen die verschiedenen Bewohner*innen nur in Bezug zu sich selbst.“
Hochhaus der Angst
Ein Hochhaus als Reich der Angst: Gerade in den statischen und menschenleeren Bildern von dem Wohnklotz mit Wellnessangeboten wird diese Atmosphäre eindringlich vermittelt. Ansonsten ist der Film umso stärker, je mehr Anna die Szene bestimmt. Vielleicht hätte die Regisseurin dem restlichen Cast mehr zutrauen sollen. Sehenswert ist diese insgesamt sehr zurückgenommene und originelle Satire auf bedenkliche Tendenzen unserer Zeit aber trotzdem.
„Wir könnten genauso gut tot sein“ (Deutschland, Rumänien 2022), ein Film von Natalia Sinelnikova, mit Ioana Jacob, Pola Geiger, Jörg Schüttauf, Şiir Eloğlu u.a., 93 Minuten
Kinostart: 29. September 2022