Kultur

Filmtipp „Wie im echten Leben“: Undercover in der Putzkolonne

Eine Schriftstellerin tarnt sich als Reinigungskraft und erforscht das Prekariat: Jenseits des Kitsches erzählt das französische Sozialdrama „Wie im echten Leben“ mit Juliette Binoche in der Hauptrolle von Ausbeutung und Solidarität.
von ohne Autor · 1. Juli 2022
Prekäre Bedingungen schweißen zusammen: Zwischen Christèle (Hélène Lambert, links) und Marianne (Juliette Binoche, rechts) entwickelt sich eine unverhoffte Freundschaft.
Prekäre Bedingungen schweißen zusammen: Zwischen Christèle (Hélène Lambert, links) und Marianne (Juliette Binoche, rechts) entwickelt sich eine unverhoffte Freundschaft.

Seit der Corona-Zeit ist häufiger von Menschen die Rede, die unsere Gesellschaft zusammenhalten, beziehungsweise die Dinge am Laufen halten, dafür aber wenig Wertschätzung erfahren. Zum Beispiel Reinigungskräfte. Für viele sind sie unsichtbar. Weil viele sie nicht sehen wollen, sie aber auch gar nicht gesehen werden sollen. Frankreichs Filmikone Juliette Binoche spielt eine Frau, die diese Menschen sichtbar machen will. Um zu zeigen, wer die wirklichen Stützen der Gesellschaft sind.

Um für ein Buch über prekär Beschäftigte zu recherchieren, verlässt die erfolgreiche Schriftstellerin Marianne Winckler für eine Weile ihr saturiertes Leben in Paris und reist in die nordfranzösische Provinz. Undercover taucht sie ein in die Welt der Abgehängten. Gibt sich als Arbeitslose aus, um sich vom Amt einen schlecht bezahlten Putzjob vermitteln zu lassen. Im Nu erfährt Marianne, auf welch wackeligen Füßen die Existenzen der fast ausschließlich weiblichen Reinigungskräfte in der Großstadt Caen stehen.

Arbeit im Akkord: Anderthalb Minuten pro Bett

Wegen einer Lappalie verliert Marianne ihren ersten Job in einem Putztrupp nach sehr kurzer Zeit. Dank der Solidarität ihrer Leidensgenossinnen findet sie eine neue Anstellung auf der Fähre nach England. Dort offenbart sich der krasse Widerspruch zwischen Anforderung und Entlohnung. Zwölf Arbeiterinnen und Arbeiter haben in anderthalb Stunden 230 Kabinen zu reinigen. 60 Betten muss Marianne auf Schwung bringen. Pro Bett hat sie anderthalb Minuten. Ein Pensum, das sie körperlich und seelisch leiden lässt.

Unter diesen extremen Bedingungen wachsen Bindungen. Marianne freundet sich mit den Kolleg*innen an und verbringt mit ihnen Abende im Bowlingcenter. Immer geringer wird die Distanz gegenüber den Frauen und wenigen Männern, die denkbar starke Gegensätze zu ihrem privilegierten Künstlerinnendasein verkörpern. Marianne wirkt wie eine von ihnen.

Wann soll sie sich outen?

Abends, wenn sie schlaftrunken ihre Notizen am Laptop abtippt, kehrt sie in die Rolle der Beobachterin zurück. Das Manuskript wächst und wächst. Marianne wird klar, dass eine Person, die sie besonders fasziniert, darin eine zentrale Rolle spielen wird: Christèle, eine Frau in den 30ern, läuft jeden Tag mehrere Kilometer zur Arbeit, um sich und die drei Söhne durchzubringen. Eine Figur wie gemacht für Mariannes Buch.

Der Autorin wird klar, dass sie sich irgendwann outen muss, wenn sie verhindern will, die alleinerziehende Mutter und die anderen Mitstreiter*innen über Gebühr zu „benutzen“. Doch wann ist der geeignete Zeitpunkt?

Bestseller „Putze! Mein Leben im Dreck“

Bei „Wie im echten Leben“ ist in der Tat einiges echt. Der Film basiert auf einem Buch der französischen Journalistin Florence Aubenas. Vor einigen Jahren schleuste sie sich in eine Putzkolonne ein. Ihr Erfahrungsbericht wurde auch in Deutschland ein Erfolg, hier erschien das Werk unter dem Titel „Putze! Mein Leben im Dreck“.

Diesen Stoff zu verfilmen, bietet viele Fallstricke. Regisseur Emmanuel Carrère, der sich vor allem als Dokumentarfilmer und Schriftsteller einen Namen gemacht und auch am Drehbuch mitschrieb, ist es nicht nur gelungen, sie zu umschiffen. Inhaltlich und ästhetisch setzt der Film einige Ausrufezeichen.

Authentizität und dokumentarische Kraft

Hervorzuheben ist die besondere Strahlkraft des Ensembles. Außer Binoche sind keine professionellen Darsteller*innen zu sehen. Hélène Lambert alias Christèle und die anderen Putzkräfte spielen sich selbst. Durch die Einbeziehung der realen „Unsichtbaren“ erhält der in weiten Teilen fiktionale Film eine besondere Authentizität und dokumentarische Kraft. Beides wird verstärkt durch vom Skript losgelöste Aufnahmen vom Alltag in einer Gegend, die genauso rau ist wie der Ton der Menschen untereinander.

Laut Verleih herrschte während der Vorbereitung der Dreharbeiten eine besondere Chemie zwischen der Hauptdarstellerin und dem restlichen Cast. Carrère ist es gelungen, diese Emotionen und die besondere Interaktion einzufangen. Man hat den Eindruck, Lambert und die anderen Laiendarsteller*innen hätte nie etwas anders getan, als vor der Kamera zu stehen. Sie und Binoche agieren auf Augenhöhe.

Freundschaft zwischen zwei gegensätzlichen Frauen

Binoche hat dieses Filmprojekt jahrelang vorangetrieben und die Produktion begleitet. Trotz der besagten Augenhöhe prägt sie diese Geschichte über eine Freundschaft zwischen zwei gegensätzlichen Frauen, die neue Seiten an sich entdecken und sich am Ende mit Kategorien wie Täuschung und Verrat konfrontiert sehen, auch als Darstellerin, jedoch anders, als man im ersten Moment vermuten würde.

Haften bleiben die Szenen, in denen Binoche außerhalb der neuen Gemeinschaft als „wahre“ Marianne agiert und ihr zuvor zurückgenommenes Spiel anders akzentuiert. Oder wenn Marianne ihre Rolle auf dem Arbeitsamt so überzeugend spielt, dass auch die Zuschauenden ihr auf den Leim gehen.

„Wie im echten Leben“ bietet alles andere als Sozialkitsch oder Feelgood-Atmosphäre. Damit hebt sich der Film von vielen anderen Culture-Clash-Produktionen ab. Vor allem die bittere Schlussszene macht deutlich, dass die Annäherung zwischen Menschen aus konträren sozialen Milieus oft leider eine Illusion bleibt.

Info:  „Wie im echten Leben“ (Frankreich 2021), Regie: Emmanuel Carrère, Drehbuch: Emmanuel Carrère und Hélène Devynck, frei nach dem Buch „Le Quai d‘Ouistreham“
von Florence Aubenas, mit Juliette Binoche, Hélène Lambert, Léa Carne, Emily Madeleine u.a., 106 Minuten.
Im Kino
www.neuevisionen.de

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