Filmtipp: Wie ein Zoodirektor gegen die Mächtigen in der Türkei kämpft
Menschen können merkwürdige Wesen sein. Sie verhalten sich angepasst, obwohl sie das, was um sie herum geschieht, ablehnen. Ihnen fehlt die Kraft oder auch der Mut, aufzubegehren. Es ist die Angst vor einer Niederlage. Weil sie etliche Niederlagen erlebt haben. Es braucht einen besonderen Impuls, um sie aus ihrer Lethargie zu reißen und zu außergewöhnlichen Aktionen anzustiften.
Ältester Zoo der Türkei
So ein Mensch ist Fikret. Seit 22 Jahren fungiert es als Direktor des Zoos von Ankara, dem ältesten der Türkei. Er muss mitansehen, wie sein geliebtes Reich privatisiert und von arabischen Investoren mit dem Segen der politischen Elite zu einem Vergnügungspark umgebaut werden soll. Während die Planer bereits Maß nehmen und die ersten Zootiere abtransportiert werden, entwickelt Fikret eine Idee, wie sich das lukrative Projekt torpedieren lässt. Dieses würde für ihn mehr als nur das berufliche Aus bedeuten.
Solange der landesweit berühmte anatolische Leopard in seinem Gehege sein Dasein fristet, ist an einen Umbau des Zoos nicht zu denken. Das Problem ist nur: Das Tier ist tot. Fikret hält ihn künstlich am Leben, indem er eine Maschinerie der Vertuschung und Täuschung in Gang setzt. Seiner Assistentin Gamze kommt dabei eine besondere Rolle zu.
Ein lächerlicher Held
Ein melancholischer, bisweilen auch lächerlicher Held und Außenseiter in einer Szenerie voller Tristesse, in der immer wieder Raum für Absurdes ist. Und ein an sich komödiantischer Plot, der Züge einer Tragödie hat: Einiges an diesem Film erinnert an die stilbildenden Werke des Finnen Aki Kaurismäki. Der türkische Filmemacher Emre Kayis findet allerdings eine ganz eigene Form für seine tragikomische Geschichte.
Immer wieder führt der 38-Jährige die Erwartungen der Zuschauenden in die Irre und fügt der Geschichte neue und überraschende Verästelungen hinzu. Das gilt insbesondere für Fikrets konspirativen Akt – es ist anscheinend der erste in seinem Leben. Der Zoodirektor lässt den toten Leoparden verschwinden. Was dann passiert, entgleitet allerdings seiner Kontrolle. Es entstehen wilde Gerüchte. Wurde das Tier entführt? Oder hat es ein Jäger zur Strecke gebracht? Fakt ist: Die Raubkatze und der längst totgeglaubte Zoo beherrschen die Nachrichten, besser gesagt: die Fake News. Das hat auch damit zu tun, dass der anatolische Leopard nahezu ausgestorben und von vielen Mythen umrankt ist.
Aber auch Fikret selbst macht eine unerwartete Entwicklung durch. Sein Leben lang war er es gewohnt, nicht gesehen zu werden. Selbst in geselligen Runden wirkt er einsam. Eine Begegnung mit seiner Tochter und der Ex-Frau machen seine „Unsichtbarkeit“ brutalstmöglich deutlich. Aus der Gewissheit, nicht dazuzugehören, formte dieser akkurate Pedant ein elitäres Bewusstsein, nicht dazugehören zu wollen.
Rückkehr ins Leben
Nun kehrt er zumindest in einigen Momenten wieder ins Leben zurück, wenn man so will. Es sind zutiefst beeindruckende Momente, wenn Hauptdarsteller Ugur Polat seine Figur aus seiner Blase holt und zum Strahlen bringt. Fikret ist gewiss: Nach der kriminellen Camouflage gibt es kein Zurück in sein altes Leben. Doch wie weit wird er gehen? Auch im Hinblick auf seine Wegbegleiterin Gamze? Hat die Romanze, die sich zwischen den beiden anbahnt, eine Zukunft? Manch ein Strang dieser mitunter verworrenen Geschichte wird unverhofft wieder gekappt.
„Der anatolische Leopard“ ist auch als Parabel auf die türkische Gesellschaft zu verstehen. Neoliberale Interessen zerstören gewachsene Strukturen. Auch, weil rücksichtslose Politiker*innen dies möglich machen. Das Leiden des abzuwickelnden Zoos ist auch das Leiden von Fikret an der Gegenwart. Zoo und Zoodirektor sind ein Spiegelbild des anderen. Um sie herum frönen Menschen verschiedensten Sehnsüchten und Leidenschaften. Seien es politische Utopien oder Hedonismus. Auch damit kann Fikret nichts anfangen. Er sitzt zwischen allen Stühlen.
Vieles, was Zuschauende gemeinhin mit der Türkei unter Erdogan verbinden, schwingt in dieser bisweilen märchenhaften Erzählung mit, ohne sich in den Vordergrund zu drängen. Fikrets Geschichte ist zeitlos angelegt und zugleich klar im Hier und Jetzt verortet. Dieser etwas schleppend inszenierte, in seiner Form und Gestalt aber sehr stilsichere Film kann als Einladung verstanden werden, sich über den Weg der Fiktion für ein Land voller Widersprüche zu öffnen.
Info: „Der anatolische Leopard“ (Türkei, Deutschland, Dänemark, Polen 2021), ein Film von Emre Kayis, mit Ugur Polat, Ipek Türktan, Tansu Bicer, Ege Aydan u.a., 108 Minuten. Im Kino