Filmtipp „We Are All Detroit": Die Narben des Wandels einer Autostadt
Fast wäre der Lebenstraum von Greg Prior wahr geworden. Wie schon sein Vater wollte sich der Ingenieur als Erfinder eines Patentes verewigen lassen: mit einer Ehrenplakette an der Mahagoniwand im Chrysler-Werk in Detroit. Doch das Aus auch für diese Fabrik in der einstigen Hochburg der Automobilindustrie machte den Traum zunichte. Wieder einmal fand in dieser vom Niedergang gebeutelten Stadt eine Familientradition ein Ende.
Viele gute Jobs verschwinden
Greg Priors Abschied von einer vorgezeichneten Wohlstandsbiografie ist vergleichsweise glimpflich verlaufen. Das Aus der produzierenden Standorte von General Motors, Cadillac und anderen gescheiterten Giganten brachte viel Elend über die Stadt. Seit einigen Jahren rappelt sie sich dank zahlreicher Start-ups und solventer Zuzügler wieder auf. Doch Zehntausende gut bezahlte und sichere Jobs für die breite Masse wird es hier wohl nie wieder geben.
Bochum macht Ähnliches durch. Die Transformation auch dieser früheren Industriestadt ist längst nicht abgeschlossen. Das 2014 vollzogene Aus für das Opel-Werk, wo zu Hochzeiten rund 20.000 Menschen arbeiteten und das die Neuerfindung der Zechen-Metropole symbolisierte, wurde vom „Mutterkonzern“ General Motors in Detroit beschlossen. Für die Dokumentarfilmer Ulrike Franke und Michael Loeken ein guter Grund, um in beiden Städten der Frage nachzugehen, was es bedeutet, wenn ganze Industrien verschwinden.
Die Suche nach einer neuen Identität
Schon in vorangegangenen Arbeiten widmete sich das Duo dem Strukturwandel im Ruhrgebiet. In diesem Dokumentarfilm geht es weniger um wirtschaftliche Zusammenhänge, sondern um die Identitätssuche von ehemaligen „Opelanern“ und anderen Menschen, denen Orte abhandengekommen sind, die ihnen neben einem Auskommen auch Sinn und Halt gegeben haben. Oder die mitansehen, wie soziale Orte, die von der der industriellen Wertschöpfung profitierten, ebenfalls dem Untergang geweiht sind.
Die Regisseurin und der Regisseur kamen den persönlich betroffenen Protagonist*innen während der sechs Jahre langen Dreharbeiten sehr nahe. Das verleiht vielen Interviews besondere Kraft. Hinzu kommen Wissenschaftler*innen und andere Expert*innen, die die persönlichen Erzählungen analytisch einrahmen und den Blick weiten.
„We Are All Detroit“ lässt mitunter Nostalgie aufkommen, doch selten wird die Vergangenheit verklärt. Wohl aber wird gezeigt, wie diffus die Gegenwart und Zukunft der Schauplätze sind. Darüber können auch die leuchtenden Farben des neuen DHL-Paketzentrums auf dem einstigen Opel-Gelände nicht hinwegtäuschen.
Einen Platz finden und seine Würde bewahren
Franke und Loeke zeigen, wie Menschen, die aus einer anderen Zeit kommen, versuchen, in einer digitalisierten und „smarten Ökonomie“ einen Platz zu finden und ihre Würde zu bewahren. In einer Welt, die anstelle der Integrationskraft traditioneller Industriezweige auf Vereinzelung setzt. Das, was die Menschen in Detroit und Bochum erleben, ist längst ein globales Phänomen.
Detroit, das seit Ende der 1950er-Jahre zwei Drittel seiner Bevölkerung verloren hat, steht für besonders krasse Auswüchse der Deindustrialisierung. Der Film spart sie nicht aus: Mit den Augen von angereisten Besuchergruppen wandern wir durch die Überreste von Fabriken, die wie gestrandete Schiffe in der Stadt herumliegen und seit Jahrzehnten sich selbst überlassen sind. „Ruinen-Porno“ nennen sie diesen Ausflugstrend in den USA.
Extremer Kontrast: Aufbruch und Verfall
Das Augenmerk wird aber auch darauf gerichtet, wie Menschen dort sprichwörtlich vor ihrer eigenen Haustür für einen kleinen Aufschwung sorgen, und sei es mit Gemüsebeeten auf Brachen. Dieser extreme und sehr präzise eingefangene Kontrast zwischen Aufbruch und Verfall hinterlässt ästhetisch wie inhaltlich einen bleibenden Eindruck.
Bei all dem geht es nicht darum, Bochum und Detroit miteinander zu vergleichen. Vielmehr zeigen Franke und Loeke auf, wie die Entwicklungen an beiden Schauplätzen miteinander korrespondieren. Unterstrichen wird dies durch eine Bildsprache, die im steten Wechsel zwischen dem US-Bundesstaat Michigan und Nordrhein-Westfalen optische Bezugspunkte sucht und findet.
Manche Narben können verheilen
Dabei stechen natürlich auch Unterschiede ins Auge. Etwa die Tatsache, dass das Bochumer Opel-Werk, wo in Hochzeiten rund 20.000 Menschen arbeiteten, nicht jahrelang verrottete, sondern in Windeseile planiert wurde, um neuen Ideen Platz zu machen. Die Zukunft wird als verheißungsvoll vermarktet, bringt aber vor allem prekäre (und weitaus weniger) Jobs mit sich. Immer wieder fängt der Film die Verwandlung des riesigen Areals in ein vermeintliches Dienstleistungsparadies ein. Besonders interessant ist der Blick von Detroiter Studenten auf diese „schöne neue Welt“.
Was bleibt, wenn etwas verschwindet? Oft sind es Narben. Manche Narben können verheilen und Türen öffnen. Auch das macht dieser Film deutlich.
Info:
„We Are All Detroit - Vom Bleiben und Verschwinden“ (Deutschland 2021), ein Film von Ulrike Franke und Michael Loeken, 118 Minuten
realfictionfilme.de
Kinostart: 13. Mai 2022