Filmtipp „Wagner, Bayreuth und der Rest der Welt“: Schlimm und genial
Die Wagner-Opernsammlung zählte zu den wenigen Dingen, die Jonathan Livnys Vater mit sich nahm, als er in den 30er-Jahren vor den Nazis aus Berlin nach Palästina floh. Sein Sohn legt die Platten immer wieder auf. Er ist der Vorsitzende der 2010 von ihm gegründeten Wagner-Gesellschaft Israels.
In Israel gilt Richard Wagner wegen seiner antisemitischen Schriften und der Vereinnahmung durch das NS-Regime noch immer als Persona non grata, auch wenn seine Werke in dem Land mittlerweile sporadisch aufgeführt werden. Livny sieht es pragmatisch: „Der war ein scheußlicher Mensch, aber hat himmlische Musik gemacht.“
Persönliche Dramen
Er will einen kulturellen Diskurs über den aus guten Gründen umstrittenen, aber eben auch sehr einflussreichen Künstler anstoßen und pflegen. Bei den Bayreuther Festspielen ist der Jerusalemer Anwalt seit Jahren Stammgast. Die Interviewszenen mit Jonathan Livny zählen zu den berührendsten Momenten des Films. In seinen Ausführungen wird besonders deutlich, welche persönlichen Dramen und inneren Konflikte mitunter hinter dem abstrakten Begriff der Wagner-Rezeption stecken.
Der Kult um den – anfangs auch im politischen Sinne – revolutionären Verfechter des Musiktheaters als überwältigendes Gesamtkunstwerk misst sich in beeindruckenden Zahlen. Weltweit gibt es rund 125 Wagner-Verbände mit rund 30.000 Mitgliedern. Um das Nachleben oder die Langlebigkeit des 1813 geborenen und 1883 gestorbenen Komponisten und Begründers der Bayreuther Festspiele geht es in Axel Brüggemanns Film. Der Regisseur und Drehbuchautor widmet sich dem Thema von mehreren Seiten: Wagner als gesellschaftliches Phänomen, als Glaubensfrage und schließlich das Bayreuther Festspielhaus als Pilgerort.
Breiten Raum nehmen die 1876 gestarteten und zum Promi-Schaulaufen-Ritual mutierten Festspiele ein, die die verschlafene oberfränkische Stadt im Sommer zum Hotspot machen. Brüggemann zeigt, wie sich Regisseur*innen, Dirigenten und Musiker*innen – darunter Musikdirektor Christian Thielemann und Festspiele-Chefin Katharina Wagner – an Wagner reiben und immer wieder neue Wege finden, sein Werk auf die Bühne zu bringen. Und auch, was für ein Kraftakt dahintersteckt.
Weltweite Spurensuche
Vom Orchestergraben geht es immer wieder in die weite Welt. Etwa nach Venedig, Japan, in die USA und eben nach Israel. An Orte, wo Werk und Schöpfer auf jeweils spezifische und nicht selten überraschende Weise weiterleben.
Immer wieder steht die Frage im Raum, ob und wie das Rätsel namens Richard Wagner zu lösen ist. Dieses fasst der US-Musikkritiker Alex Ross so zusammen: „Er war gleichzeitig überwältigend und mystisch, hyperaktiv und auf eine Art eine völlig unseriöse Figur. Erstaunlich, dass ausgerechnet so jemand derart perfekte und komplexe Werke geschaffen hat.“ Der ausgewiesene Wagner-Experte übernimmt den Part einer quasi-objektiven Instanz, die immer wieder pointierte Einlassungen zu Wagners Langzeitwirkung liefert, während viele andere Gesprächspartner*innen in ihrer persönlichen Perspektive verharren.
Zeichen von Größenwahn
Kommen wir dem Phänomen Wagner dabei wirklich näher? Der Film trägt, wie auch der Schöpfer des „Rings des Nibelungen“ selbst, größenwahnsinnige Züge. Wegen seiner mitunter opulenten und häufig mit Wagner-Klängen untermalten, allerdings atmosphärisch starken Bildsprache. Vor allem aber wegen des Versuchs, in einem Abwasch den Kult um Wagner, die Rezeption und Neuerfindung seiner Werke und Bayreuth als Gralsstätte zu beleuchten und einen Blick hinter die Kulissen der Festspiele zu werfen.
Im Sinne einer fundierten Betrachtung würde jeder dieser Aspekte für sich einen eigenen Film verlangen. Was Wagners Antisemitismus betrifft, ist der Blick in die Tiefe recht gut gelungen. Darüber hinaus bleibt vieles blass. Immerhin: Wer sich zuvor kaum mit der Materie befasst hat, bekommt eine solide und unterhaltsame Einführung.
Mit einem Quantum Humor
Der Blick auf den Festspielbetrieb und dessen führende Figuren fällt nicht allzu kritisch aus. Was nicht verwundert, schließlich ist Brüggemann als Moderator von Konzertübertragungen Teil des Ganzen. Der Bayerische Rundfunk als Koproduzent steht auch nicht gerade für übermäßig viel Distanz gegenüber dem Grünen Hügel.
Für den Film spricht hingegen, dass Brüggemann bemüht ist, das komplexe Thema mit einem Quantum Humor aufzubereiten. Zum Beispiel, indem er einem Ehepaar, das eine Bayreuther Fleischerei führt, viel Raum für eine ganz eigene Sicht auf die Dinge bietet. Der Übergang von elitären Wagnerianern im venezianischen Palazzo zur Wursttheke in Oberfranken zählt optisch wie inhaltlich zu den schönsten Stellen dieses oftmals mehr auf Wirkung als auf Analyse bedachten Dokumentarfilms.
Info: „Wagner, Bayreuth und der Rest der Welt“ (Deutschland 2021), ein Film von Axel Brüggemann, mit Katharina Wagner, Christian Thielemann, Alex Ross, Jonathan Livny, Catherine Foster u.a.
Im Kino
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