Kultur

Filmtipp „Vater – Otac“: Ein langer Marsch gegen das Unrecht

300 Kilometer zu Fuß bis nach Belgrad: Das serbische Drama „Vater – Otac“ erzählt davon, wie ein verarmter Mann um seine Kinder kämpft. Ein schonungsloses, aber subtiles Porträt einer haltlosen Gesellschaft, in der das Recht des Stärkeren gilt.
von ohne Autor · 3. Dezember 2021
Himmelschreiendes Unrecht: Nikola (Goran Bogdan) kämpft um seine Familie und gegen Behördenwillkür.
Himmelschreiendes Unrecht: Nikola (Goran Bogdan) kämpft um seine Familie und gegen Behördenwillkür.

Das wahre Leben schreibt immer wieder die unglaublichsten Geschichten. Geschichten wie diese: Ein Vater geht hunderte Kilometer zu Fuß quer durchs Land. Beim zuständigen Ministerium in der Hauptstadt will er das Sorgerecht für seine Kinder erstreiten. Tagelang campiert er vor dem Gebäude, um zu erzwingen, dass sich die Behörde seiner Sache annimmt.

So hat es sich vor einigen Jahren in Serbien zugetragen. Der serbische Filmemacher Srdan Golubović hat diesen langen Marsch durch die Institutionen, der hohe öffentliche Wellen schlug, in einem aufrüttelnden Kinodrama verarbeitet. Dieses sagt viel über die verzweifelte Situation eines Einzelnen aus, aber auch über die innere Verfasstheit einer Gesellschaft, in der sozial Benachteiligte wie rechtlose Objekte behandelt und von den Mächtigen an den Rand gedrängt werden.

Ruinen des Sozialismus

Das ist auch geografisch gemeint. Dort, wo diese Geschichte ihren Anfang nimmt, regiert die pure Tristesse. Der Tagelöhner Nikola lebt mit Ehefrau, Sohn und Tochter in einem Dorf in der hügeligen serbischen Provinz. Von den Industriebetrieben aus sozialistischen Zeiten sind nur Ruinen geblieben. Geld hat fast niemand, der Alltag ist ein ständiges Improvisieren.

Eines Tages hält Nikolas Frau Biljana das Elend nicht mehr aus und startet eine verzweifelte Einzelaktion. Das Jugendamt nimmt die Kinder in Obhut. Um sie zurückzubekommen, muss Nikola diverse Auflagen erfüllen. Die Kinder werden ihm trotzdem verwehrt. Er sieht nur noch einen Ausweg. In seinen Rucksack packt er ein Stück Brot, eine Flasche Wasser und einen schriftlichen Einspruch gegen die Willkür der korrupten Behörde, den er persönlich beim Minister abgeben will. Damit macht sich der einsame Wanderer auf den Weg nach Belgrad.

Das, was Nikola durchmacht, schreit zum Himmel. Als Zuschauer verspürt man immer wieder den Drang, selbst loszuschreien. Da ist es fast schon irritierend, dass „Vater“ ein äußerst leiser Film ist. Eskalierende Situationen sind die Ausnahme. Der Protagonist ist alles andere als ein Quell heftiger Entäußerungen. Mit stoischer Miene, ähnlich wie ein Tier vom reinen Instinkt getrieben, läuft er sich die Füße blutig. Was sich in ihm abspielt, ist zu spüren, doch es wird fast nie in Worte gekleidet.

Kompromissloser Naturalismus

Die eindringliche Wirkung dieser Figur rührt auch daher, dass der kroatische Schauspieler Goran Bogdan – einigen bekannt aus der US-Serie „Fargo“ – diese Figur, deren Perspektive wir folgen, mit einem kompromiss- und visionslosen Naturalismus interpretiert. Nichts wirkt gekünstelt und nichts wird ästhetisch überhöht.

Gerade das macht Nikolas Wandlung vom Wegducker zum aktiven Subjekt, das nur auf sich selbst vertraut, so packend. Dem zunehmend ausgezehrten Mann sind abstrakte Kategorien fremd. Er will nicht die Welt verändern, sondern sein Recht bekommen. Dieser auf sich allein gestellte Kampf um die persönliche Würde ist ein klassisches Muster, doch hier sehen wir es in einem anderen, neuen Licht.

Ungekünstelt sind auch die Bilder von den Gegenden, die Nikola, nahezu fieberhaft angetrieben, durchschreitet. Die von Zerfall und Ödnis geprägten Dörfer, Städtchen und Fabrikruinen sehen aus, wie sie eben aussehen. Demgegenüber steht die pure Schönheit der Natur. Ebenso ungefiltert ist der Kontrast zwischen dem urbanen Glanz Belgrads und der von den Eliten abgeschriebenen Provinz.

Weder Idyll noch Hölle

Diese Authentizität gilt auch für Nikolas zwischenmenschliche Erfahrungen während des Marathontrips. Ihm begegnen Niedertracht, Solidarität und Menschen, die noch übler dran sind als er. Es ist eine völlig alltägliche Mischung, die insgesamt weder als Idylle noch als pure Hölle dargestellt wird.

„Ich wollte keinen Versuch unternehmen, die Realität schlimmer zu porträtieren, als sie ist“, sagt Srdan Golubović über seinen Film, der bei der Berlinale 2020 zweifach ausgezeichnet wurde. „Unglücklicherweise ist die Realität so, wie sie im Film zu sehen ist. Es gibt nichts Schönes an der Armut.“

Mit seinem präzisen und auf Unmittelbarkeit zielenden Blick auf die Dinge, der nahezu ohne moralisierende Elemente auskommt, ist dem Regisseur und Co-Drehbuchautor eine soghafte Erzählung gelungen, die ein Abbild der zerrütteten sozialen Verhältnisse im postsozialistischen Südosteuropa liefert und zugleich universale Züge trägt. Nikolas langer Marsch steht für den endlosen Überlebenskampf zahlloser anderer Menschen am Rand der Gesellschaft.

Info: „Vater – Otac“ (Serbien, Frankreich, Deutschland, Kroatien, Slowenien, Bosnien und Herzegowina 2020), ein Film von Srdan Golubović, Kamera: Aleksandar Ilić, mit Goran Bogdan, Boris Isaković, Nada Šargin, Milica Janevski u.a.,120 Minuten

https://barnsteiner-film.de/father-otac/

Im Kino

 

0 Kommentare
Noch keine Kommentare