Kultur

Filmtipp „Sorry We missed You“: Drama über Selbstausbeutung moderner Dienstleister

Täglich am Limit für günstige Preise: Ebenso nüchtern wie warmherzig erzählt Ken Loachs neues Drama „Sorry We missed you“ von den Nöten eines Paketboten und einer Altenpflegerin.
von ohne Autor · 31. Januar 2020
Preis der Selbstausbeutung: Solche unbeschwerten Momente werden in Rickys Familie immer seltener.
Preis der Selbstausbeutung: Solche unbeschwerten Momente werden in Rickys Familie immer seltener.

Alles bleibt wie immer, nur schlimmer. So ungefähr lässt sich das Leben von Ricky und Abby aus Newcastle beschreiben. Seit Jahren hangeln sie sich von Job zu Job. Dem Traum von einem Leben in Stabilität und Sicherheit kommen der Handwerker und die Altenpflegerin keinen Schritt näher. Es wächst der Frust. Und es schmerzt die Erinnerung an das Häuschen, das sie während der Finanzkrise verloren haben. Alles würden sie geben, um mit ihren beiden Kindern eines Tages im Eigenheim leben zu können.

Selbstständigkeit steht nur auf dem Papier

Das muss man wissen, um zu verstehen, wieso sich Ricky dafür entscheidet, sein Glück als Paketbote zu versuchen. Also in einer Branche anzuheuern, deren Image nicht nur in Großbritannien kaum schlechter sein könnte. Warum das so ist, bekommt er beim ersten Treffen mit dem örtlichen Depotchef zu spüren. „Sie arbeiten nicht für uns, sondern mit uns“, heißt es im Gespräch. Doch die Selbstständigkeit steht nur auf dem Papier. Ricky erhält ein lausiges Honorar und muss zugleich viele Kosten alleine schultern. Wenn der Familienvater ausfällt und keinen Ersatzfahrer auftreibt, zahlt er eine Strafe. Einen Lieferwagen kann er gegen eine saftige Gebühr leihen. Für den Paketdienst ist all das ein gutes Geschäft.

Ein eigener Van erscheint Rick attraktiver. Um diesen zu finanzieren, müssen die Turners ihr Familienauto verkaufen. Darunter leidet Abby, die nun noch mehr Zeit für die Wege zu den alten Menschen braucht, die sie auf Mindestlohnbasis für eine private Agentur, die vom Staat ausgeschriebene Aufträge übernimmt, betreut. Zeit, die ihr für die eigentliche Betreuung und Pflege fehlt. Aber auch das Familienleben leidet darunter, dass beide Elternteile im Dauerstress und kaum noch zu Hause sind. Schließlich muss Ricky lange und aufreibende Touren fahren, um über die Runden zu kommen. Schnell wird klar: Die Verheißungen der „Dienstleistungsgesellschaft“ und der Gig Economy sind für diese Familie ein Fluch.

Nüchterner Blick in den Abgrund

Nach dem in Cannes ausgezeichneten „Ich, Daniel Blake“ hat Regisseur Ken Loach auch seinen aktuellen Film in der nordenglischen Metropole angesiedelt. Also in einer Gegend, die von dem Strukturwandel der britischen Wirtschaft der vergangenen vier Jahrzehnte und den damit verbundenen gesellschaftlichen Verwerfungen besonders brutal getroffen wurde.

Dem mittlerweile fast 84-jährigen Altmeister des britischen Sozialrealismus ist ein erzählerisch starkes und, was den Blick auf Ricky, Abby und ihre Kinder betrifft, warmherziges Drama gelungen, das sich auf Augenhöhe mit seinen Klassikern bewegt. Mit nüchternem Blick wird beschrieben, wie sich vier Menschen immer mehr in Richtung Abgrund bewegen. Ricky rackert sich ab, verliert dabei aber den halbwüchsigen Sohn und die Tochter im Grundschulalter aus dem Blick. Abby versucht, den Kindern zumindest per Telefon nahe zu sein, während sie von Pflegetermin zu Pflegetermin hetzt. Die Kinder beginnen, auf ihre Art mit dem aus den Fugen geratenen Familienleben umzugehen: einer von vielen Störfaktoren für das fragile System der schlecht bezahlten Arbeit „auf Bestellung“, die ein Privatleben „nach Plan“ verlangt.

Der tägliche Gang ans Limit

Man fragt sich, warum einen dieses Drama, das kaum Atempausen zulässt, so sehr berührt. Schließlich haben Loach und sein altgedienter Drehbuchautor Paul Laverty das Rad nicht neu erfunden. Seit Jahrzehnten stehen die Abgehängten und die Ausgebeuteten im Mittelpunkt von Ken Loachs Schaffen. „Sorry We missed you“ lebt von einem äußerst präzisen und, vor allem in Rickys Fall, geradezu dokumentarischen Blick auf den Arbeitsalltag zweier abgekämpfter Elternteile. Beide versuchen, trotz aller Widrigkeiten nicht ihre Menschlichkeit zu verlieren und fordern ihr Recht ein. Das verleiht diesen Figuren reichlich Farbe, erhöht zugleich aber den Druck auf sie. Schließlich geht es denen, „mit denen sie arbeiten“, nur darum, die Kosten niedrig zu halten. So viel zum Faktor Hoffnung.

Gerade Paketboten stehen aber auch für die dunkle Seite der auf Tempo und günstige Preise ausgerichteten Online-Konsumwelt, die dennoch von den meisten geschätzt wird. Jener schonungslose, ohne jegliches Klassenpathos auskommende Blick auf den täglichen Gang ans Limit genügt, um beim Zuschauer Fragen aufkommen zu lassen. Und zwar weit über Abbys und Rickys Arbeitswelt hinaus. Man darf davon ausgehen, dass Ken Loach hat noch viel zu erzählen hat.

Info: „Sorry We missed you“ (Großbritannien, Frankreich, Belgien 2018), Regie: Ken Loach, Drehbuch: Paul Laverty, mit Kris Hitchen, Debbie Honeywood, Rhys Stone, Katie Proctor u.a., 100 Minuten.

Im Kino

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