Kultur

Filmtipp „Sommer 1943“: Wenn Nachbarn zu Mördern werden

Der Sturm der Geschichte reißt ein Dorf in den Abgrund: Das polnische Kriegsdrama „Sommer 1943 – das Ende der Unschuld“ schildert ethnische Säuberungen als blutige Apokalypse.
von ohne Autor · 16. August 2019
Angst vor der Zukunft: Die Dorfbewohner müssen sich mal wieder mit neuen Herren arrangieren.
Angst vor der Zukunft: Die Dorfbewohner müssen sich mal wieder mit neuen Herren arrangieren.

Eine abgelegene Siedlung im Osten Polens, kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs: Einen Tag und eine Nacht feiern die Bewohner die Hochzeit von Hela und Vasil. Sie ist Polin, er Ukrainer. Solche Verbindungen sind in Wolhynien nicht ungewöhnlich, wenngleich sich beide Entitäten ansonsten nur in der Ablehnung der Juden einig zu sein scheinen.

Polen sind Herren, Ukrainer Knechte

Nach 1918 war die mehrheitlich von Ukrainern bewohnte Region an das wiederauferstandene Polen gefallen. „Polen sind Herren und die Ukrainer sind Knechte.“ So fasst der wohlhabende Bauer und Ortsvorsteher Maciej während der exzessiven Feier ein seinerzeit gängiges Weltbild zusammen. Maciejs ukrainische Nachbarn sind auch an diesem Tag der Freude darüber verbittert, für polnische Grundbesitzer die Drecksarbeit zu erledigen und nichts zu sagen zu haben. Berichte über einzelne Gewaltexzesse zwischen beiden Seiten machen die Runde.

Die Hoffnung vieler Ukrainer richtet sich auf die Zukunft. Ob nun im Zeichen von Hitler oder von Stalin. Beide werden sich nacheinander die Region, die sich heute im Nordwesten der Ukraine befindet, einverleiben. Plötzlich findet sich diese scheinbar so abgeschiedene Welt inmitten jener Umwälzungen wieder, die nach 1945 große Teile der Landkarte Osteuropas neu sortieren werden. Man kann sich kaum vorstellen, dass dieses Idyll wenig später in Chaos und Blut ertrinkt, doch die ersten Anzeichen der Apokalypse sind unübersehbar.

Kaum jemand ist unschuldig

Wie ein Gift breitet sich der Hass langsam aus, um schließlich eine mörderische Wirkung zu entfalten. Der deutsche Titel des Films, der in Polen unter der schlichten Regionalbezeichnung „ Wołyń“ im Kino lief, führt in die Irre. Weder die Menschen noch die Verhältnisse sind in der Gegend zwischen Bug und Karpaten „unschuldig“, wie Maciej und viele andere Beispiele zeigen. Der Witwer mit zwei Kindern sucht sich Helas Schwester, die erst 17-jährige Zosia, als neue Frau aus, obwohl sie den jungen Ukrainer Petro liebt. Doch für die Irrungen und Wirrungen im Zeichen der Liebe bleibt kaum Zeit. Maciej und viele andere Männer aus dem Dorf ziehen gegen die Deutschen in den Krieg.

Als die Sowjets, wie im Hitler-Stalin-Pakt verabredet, das Land besetzen, krempeln sie die Ordnung nach ihrem Gusto um. Maciejs Familie verliert ihren Hof und das als „Kulak“ verunglimpfte Familienoberhaupt wird deportiert. Nun rückt Zosia vollends in den Fokus der Erzählung. Fortan liegt es an ihr, das Überleben der Familie zu sichern. Darin ist auch ein Akt der Selbstbehauptung zu sehen, zumal die Verhältnisse angesichts ständig wechselnder Besatzer zunehmend unübersichtlich werden.

Ein Martyrium, das die Vorstellungskraft sprengt

Im Sommer 1941 überrollt die Wehrmacht Wolhynien. Nun fühlen sich die radikalen ukrainischen Nationalisten endgültig im Aufwind. Für ihren Traum von einer unabhängigen Ukraine gehen die Anhänger von Stepan Bandera über Leichen. Das bekommen besonders die Polen zu spüren. Zosia wird ein Martyrium durchleiden, das nicht nur ihre Vorstellungskraft sprengt. Vor allem in der letzten halben Stunde mutet einem der polnische Regisseur Wojciech Smarzowski unerträglich brutale Bilder zu, ohne dabei allerdings seine behutsame und atmosphärisch dichte Erzählweise aufzugeben, die gerade aufseiten der Protagonistin mit extrem wenig Text auskommt.

Ebenso geschockt wie die junge Bäuerin stolpern wir durch ein Horrorszenario, das sein Grauen gerade daraus schöpft, das es so real ist. 1943 und 1944 töten ukrainische Banden bis zu 100.000 Polen in Wolhynien und Ostgalizien auf bestialischste Weise. Die Polen revanchierten sich und metzelten rund 10.000 ukrainische Zivilisten nieder. Diese Exzesse, die mit der Vertreibung der polnischen Minderheit nach Westen endete, belasten die Beziehungen zwischen Warschau und Kiew bis heute. Smarzowski schont keine der beiden Seiten, sondern warnt vor der zersetzenden Kraft der nationalistischen Verblendung.

Brisante Produktion in Zeiten neuen Nationalismus

Mit provokanten Filmen über Tabu-Themen hat Smarzowski schon oft für Aufsehen gesorgt. In „Kler“ aus dem Jahr 2018 befasste sich der 56-Jährige mit Missbrauchsfällen in der katholischen Kirche. Zwei Jahre zuvor wurde „1943“ beim wichtigsten nationalen Filmpreis achtmal bedacht, das gab es noch nie. In Zeiten einer Rechtsregierung, die an einem eigenen Bild der polnischen Geschichte bastelt und wiederholt auf Konfrontationskurs zur Kulturszene gegangen ist, ist diese Resonanz umso bemerkenswerter.

Wer mag schon verstehen, warum sich für diese in Zeiten eines erstarkenden Nationalismus umso brisantere Produktion kein deutscher Kino-Verleih fand. Immerhin ist dieser aufwühlende Film drei Jahre nach dem Kinostart in Polen nun endlich auf DVD und Blu-ray zu haben.

Info: „Sommer 1943 – das Ende der Unschuld“ („Wołyń“, USA 2016), ein Film von Wojciech Smarzowski, mit Michalina Labacz, Arkadiusz Jakubik u.a., circa 144 Minuten, FSK ab 18 beantragt.

Kinostart: 27. Juni

 

 

 

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