Filmtipp „Regeln am Band, bei hoher Geschwindigkeit“: Wer den wahren Preis des Fleisches zahlt
Dass es in der deutschen Fleischindustrie im Allgemeinen und beim Branchenprimus Tönnies im Speziellen nicht immer mit rechten Dingen zugeht, war schon vor den Corona-Ausbrüchen unter Leiharbeiter*innen in Nordrhein-Westfalen klar. Um die Arbeitskosten und damit auch den Fleischpreis niedrig zu halten, geht man – zugespitzt gesagt – über Leichen.
Der Tod in der Fleischfabrik
Manchmal gilt dies auch im wörtlichen Sinne: In ihrem Film, der als Abschlussarbeit an der Hochschule für Fernsehen und Film München entstand, erzählt Regisseurin Yulia Lokshina gleich am Anfang von einem polnischen Arbeiter, der während der Fleischverarbeitung versehentlich in eine Maschine gerät und zerstückelt wird. Sein Tod geht zunächst im allgegenwärtigen Lärm und Tempo unter.
Während die haarsträubende Geschichte aus dem Off erklingt, beobachten wir ein Schwein, dass im fahlen Licht immer wieder erfolglos nach einem Ball schnappt. Diese Eingangsszene ist typisch für den ganzen Film: Das, was wir sehen, ist nicht unbedingt immer auch das, von dem gerade erzählt wird. Oftmals sind die Bilder ein Kommentar des Gesagten.
Untypischer Ansatz
„Regeln am Band, bei hoher Geschwindigkeit“ beschreibt die Zustände in der Fleischindustrie, entfernt sich aber weitgehend von der klassischen Erzählstruktur eines Dokumentarfilms, zumal im Dunstkreis zwischen Wirtschaft und Politik. Die 1986 geborene Filmemacherin liefert Einblicke in den Alltag von Arbeitsmigrant*innen im Tönnies-Stammwerk in Rheda-Wiedenbrück mit 7.000 Beschäftigten und stellt Menschen vor, die sich seit vielen Jahren dafür einsetzen, dass die Zuwander*innen endlich unter würdigen Bedingungen arbeiten und wohnen.
Lokshina spürt diesen Menschen am Werkstor, im Garten, auf dem Campingplatz und anderen zunächst unspektakulär anmutenden Orten nach. Aus dem Off, mitunter auch vor der Kamera, berichten Männer und Frauen, welch hohen Preis sie persönlich für den Fleischkonsum in der Bundesrepublik zahlen. Ausbeutung und Protest: Durch all die verdichteten Eindrücke wird die ostwestfälische Provinz zum Hotspot eines Konflikts, wie er für ein allein auf „viel und billig“ getrimmtes ökonomisches System typischer kaum sein könnte
Brechts „heilige Johanna der Schlachthöfe“
Im steten Wechselspiel werden diesen Szenen Bilder von Theaterproben an einem Münchner Gymnasium gegenübergestellt. Die Schüler*innen studieren das Stück „Die heilige Johanna der Schlachthöfe“ ein. Bertolt Brechts marxistisch inspirierter Klassiker um eine Frau, die den ausgesperrten Arbeitern der Schlachthöfe von Chicago Gott näherbringen will, behandelte Marktmacht und Ausbeutung schon vor bald 90 Jahren in exemplarischer Weise. Wenn die Jugendlichen symbolisch zum Messer greifen, wird gewissermaßen gezeigt, was Lokshina nicht zeigen kann oder wegen zu erwartender restriktiver Drehvorschriften im Tönnies-Werk gar nicht erst versucht hat zu zeigen.
Wir sehen aber auch, wie sich der Lehrer darum bemüht, den jungen Darsteller*innen zu entlocken, was sie über das, was sie da spielen, denken. Diese Bühnenebene wirkt mitunter arg didaktisch und beißt sich mit der ansonsten eher beobachtenden, wenngleich empathischen Erzählweise, die in kleinen Schlaglichtern und vor der beschaulichen Kulisse des ländlichen NRW tiefe Abgründe aufzeigt.
Ausgezeichnet mit Max-Ophüls-Preis
Mitunter wirken die Textfragmente und Aussagen während der Probenszenen wie ein theoretischer Rahmen, wenn nicht gar als Erklärung für das, was all die Pol*innen, Bulgar*innen und Rumän*innen während ihrer Zwölf-Stunden-Schichten oder in schäbigen Behausungen durchmachen.
Der Sichtweise der Betroffenen, die häufig anonym bleiben müssen, und ihren Unterstützer*innen wird breiter Raum gewährt, die Arbeitgeberseite oder auch die politische Ebene kommt fast gar nicht zum Zug. Darin kann man einen Mangel an Objektivität sehen, doch die Regisseurin stellt ganz bewusst Menschen in den Vordergrund, die sonst kaum gesehen oder gehört werden. Gerade darin zeigt sich die engagierte Haltung von Lokshina, die beim Filmfestival mit dem Max-Ophüls-Preis für den Besten Dokumentarfilm ausgezeichnet wurde.
Experimentell und engagiert
Im Sinne von harten Fakten oder gar Lösungsansätzen ist „Regeln am Band, bei hoher Geschwindigkeit“ sicherlich nicht der definitive Dokumentarfilm über eine Branche im Zwielicht. Wohl aber schärft der experimentelle und engagierte Zugang zum Thema auf seine Weise das Bewusstsein für Missstände, die sich sicherlich nicht allein durch neue Gesetze beheben lassen.
Info: „Regeln am Band, bei hoher Geschwindigkeit“ (Deutschland 2019), ein Film von Yulia Lokshina, 92 Minuten, ab zwölf Jahre
https://jip-film.de/regeln-am-band-bei-hoher-geschwindigkeit/
Im Kino