Filmtipp „A Pure Place“: Wie zwei Kinder sich in eine Sekte verirren
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Der schöne Schein der Utopie hat oft auch eine weniger glanzvolle Seite. Vor allem dann, wenn sich Menschen in einer sektenartigen Gemeinschaft zusammenfinden, um diese Utopie kompromisslos auszuleben und der restlichen Welt zu entsagen. Dann kann es sogar ziemlich schmutzig und ausbeuterisch zugehen. Das erfahren die beiden Waisenkinder Irina und Paul, als sie im Reich eines mysteriösen Herrn namens Fust landen.
Auf einer griechischen Insel hat er gleich einem Guru Menschen um sich geschart, die mit ihm nach der absoluten Reinheit streben. Der Weg dorthin führt unter anderem über rituelle Waschungen mit einer Spezialseife aus eigener Produktion. Das Leitmotto des Kollektivs: „Wer außen ist rein, der wird's auch innen sein.“
Sklavenarbeit für die Erleuchtung
Diese Erleuchtung ist jedoch nur einem kleinen Teil der Bewohner*innen des Anwesens vergönnt. Der weitaus größere schuftet im Keller unter der gediegenen Villa, um die Seife des Gurus in mühevoller Handarbeit herzustellen. Die lässt sich auch ganz gut auf dem Festland verkaufen.
An diesem auch kapitalistisch motivierten Ort der Ausbeutung und Schinderei landen auch Irina und ihr kleiner Bruder. Für die Menschen da oben sind die Sklav*innen nur Dreck. Dementsprechend werden sie behandelt.
Irina und Paul sind durch ihr trauriges Schicksal einander sehr verbunden. Doch dann kommt der Bruch: Unverhofft gelingt es Irina, von der „Unterwelt“ in die Sphäre der eigentlichen Sekte aufzusteigen. Ihre Mitglieder tafeln in porentief reinen und weißen Gewändern vor der Villa und lauschen den salbungsvollen Reden des Chefs. Irina genießt das neue Leben. Fust hat Großes mit ihr vor.
Parallelen zu Colonia Dignidad
Reale Vorbilder für diese illustre Treiben gibt es genug. Seien es die faschistoiden Bewohner*innen der Colonia Dignidad in Chile oder die Branch Davidians in Texas. Mit Letzteren teilt Fust die Leidenschaft für Endzeitstimmung und Untergangsszenarien. Viele erinnern sich noch an die Belagerung einer Siedlung von Davidianern im texanischen Waco durch Sicherheitskräfte im Jahr 1993. Das Ganze endete in einem Blutbad.
Im Verlauf des Films wird klar, dass auch Fust einen „großen Abgang“ plant. Und Irina soll in dieser Performance die Hauptrolle spielen. Er hat allerdings die Rechnung ohne Paul gemacht, der der Verblendung widersteht und einen ganz anderen Plan entwickelt.
Inszenierung zwischen Rausch und Religion
Was an diesem „reinen Ort“ vor sich geht, ist mehr zu erahnen als in aller Deutlichkeit zu erkennen. Immer wieder schwört Fust seine Mitstreiter*innen darauf ein, sich auf ein Mysterienspiel zu Ehren von Hygieia, der Göttin der Gesundheit, vorzubereiten. Auch der Film selbst ähnelt in weiten Teilen einer religiös inspirierten Performance. Der deutsch-griechische Regisseur Nikias Chryssos („Der Bunker“) setzt weniger auf eine präzise Analyse, sondern auf rauschhafte Eindrücke und Überwältigung, um seine Erzählung zu entfalten.
Mythisch angehaucht sind auch etliche Bilder, die den Rahmen für dieses irre Gemeinschaftsleben bilden. In Großaufnahmen entfalten die paradiesischen wie auch düsteren Eindrücke von der griechischen Inselwelt eine intensive Atmosphäre. Sie sind wie ein Kommentar zu Fusts künstlicher Welt und bilden zugleich eine atmosphärische Brücke zur griechischen Götterwelt, auf die sich der Sektenchef so gern bezieht.
Wirkungsvoll ist zudem der Kontrast, wenn die Kamera übers Meer ins wuselige Athen schaut, wo nach Fusts Lesart die Verdorbenheit und der Schmutz schlechthin zu Hause sind.
Erinnerungen an „Hänsel und Gretel“
Psychologische Tiefe hat dieser Film vor allem auf der Bildebene, weniger in den Dialogen. Daher braucht es seine Zeit, sich auf die Geschichte einzulassen. Vieles an ihr bleibt fragmentarisch, einiges wirkt unausgegoren. Das liegt auch daran, dass wir vor allem der Perspektive von Irina und Paul folgen, also mit deren kindlichen Augen zwischen der Ober- und der Unterwelt pendeln. Dieser Ansatz lässt allerdings wenig Raum, den beiden Figuren wirklich nahezukommen. Zumal Fust und seine Vorgeschichte ohnehin viele Szenen dominieren.
Ein bisschen Mysterienspiel, etwas Märchenflair à la Hänsel und Gretel, dazu nibelungenhafte Untergangsstimmung, ein Hauch von Sozialdrama und psychedelische Entrückung: Auf den ersten Blick scheint in diesem Film einiges nicht so richtig zusammenzupassen.
Am Ende fügt sich aber alles zu einem eigenwilligen Ganzen, dessen unmissverständliche Botschaft ohne jegliches Moralisieren auskommt. Chryssos zielt damit nicht nur auf Sekten ab, sondern auch auf einen krankhaften Drang nach Perfektion, den er in vielen modernen Gesellschaften verankert sieht.
„A Pure Place“ (Deutschland 2021), Regie und Co-Drehbuchautor: Nikias Chryssos, Kamera: Yoshi Heimrath, mit Greta Bohacek, Sam Louwyck, Claude Heinrich, Daniel Sträßer u.a., FSK ab zwölf Jahre. Im Kino.