Kultur

Filmtipp „Picknick in Moria“: Geflüchtete filmen Europas Schande

Ein Mann aus Afghanistan dreht einen Film über das Elend in Europas größtem Lager für Geflüchtete. Die Filmemacherin Lina Lužyte hat ihn begleitet. „Picknick in Moria“ ist ein Dokument der Selbstbehauptung gegenüber einer unmenschliche Bürokratie.
von ohne Autor · 9. Juni 2023
Auch die Kinder des Filmemachers Talibshah Hosini drücken dem „Film im Film“ ihren Stempel auf.
Auch die Kinder des Filmemachers Talibshah Hosini drücken dem „Film im Film“ ihren Stempel auf.

Alle Hoffnung ist dahin. Der Asylantrag des Familienvaters wurde abgelehnt. Der Mann sieht für sich nur noch einen Ausweg: einen Strick am nächsten Baum. Solche traurigen Vorfälle hat es in dem früheren Flüchtlingslager Moria tatsächlich gegeben. Was die Kamera zeigt, ist nahe an der Realität auf der griechischen Insel Lesbos. Und doch die Fiktion eines Filmemachers. Der hat allerdings ein Anliegen, das mit einer grausigen Wirklichkeit verknüpft ist.

Völlig überfüllt, katastrophale Bedingungen

Moria ist eines der stärksten Symbole für die unmenschliche Seite der europäischen Asylpolitik. Ausgelegt war das Lager für gut 2.800 Menschen. Zeitweise lebten dort rund 20.000 Männer, Frauen und Kinder, vor allem aus Afghanistan, unter katastrophalen Bedingungen, und das wegen des langwierigen Asylverfahrens oft jahrelang. Im Jahr 2020 wurde die völlig überfüllte Ansammlung von Zelten und provisorischen Verschlägen bei einem Brand zerstört.

Eine der dort gestrandeten Familien lernen wir in „Picknick in Moria“ kennen. Es sind Talibshah und Yasamin Hosini sowie ihre Töchter Farima, Parisa und Marjan. Auch sie haben sich auf die lebensgefährliche Reise von Afghanistan in die Ägäis gemacht. Und auch für sie ist das Elend in in Europas größtem Lager für Geflüchtete und das Ausgeliefertsein gegenüber den Behörden eine – gelinde gesagt – herbe Enttäuschung.

In der Steinzeit gelandet

„Wir sind wegen des Fortschritts gekommen und in der Steinzeit gelandet“, sagt Talibshah Hosini. In Afghanistan hat er als Schauspieler gearbeitet. Weil er sich vor der Kamera über die Taliban lustig gemacht hat, wurde er bedroht. Auch in Moria will er sich nicht mit den Gegebenheiten abfinden. Er beschließt, mit einem kleinen Team aus Geflüchteten einen Film über seinen und ihren neuen Alltag zu drehen.

Dieser soll die Welt auf das Leid der Menschen aufmerksam machen. Er handelt von einer fiktiven Familie von Geflüchteten. Für die mit einfachsten Mitteln ausgestattete Produktion spannt der 37-Jährige seine Familie und viele andere Menschen in dem Lager ein. So entsteht auch die Szene mit der besagten Verzweiflungstat.

Für ihren Dokumentarfilm „Picknick in Moria – Blue Red Deport“ hat die Regisseurin und Drehbuchautorin Lina Lužyte die ungewöhnlichen und bisweilen turbulenten Dreharbeiten auf Lesbos begleitet. Sie zeigt uns Menschen, die die elenden Umstände und ihre Machtlosigkeit nicht einfach hinnehmen wollen und zu den Mitteln der Kunst greifen. Es geht ihnen um Würde und Anerkennung: Dinge, die ihnen in ihrer Heimat verwehrt wurden – und nun auch am Rande Europas. Was sich auch daran zeigt, dass ihnen viele Menschen jenseits des Lagerzaunes feindselig begegnen.

Suche nach Sinn und Richtung

In nüchternen Bildern macht die litauische Künstlerin das armselige Leben in Moria und das Bestreben der Menschen, dem Dasein in diesem Chaos einen Sinn und eine Richtung zu geben, deutlich. Immer wieder verschwimmen die Grenzen zwischen ihrem und Hosinis Film. Zum Beispiel, wenn wir Zeugin oder Zeuge des psychischen Stresses werden, den „das Verfahren“ (so der Jargon unter den Migrant*innen) und die Ungewissheit darüber, was ihm folgt, für die Betroffenen mit sich bringt. Moria begegnet und als Zwischenstation, aber auch als Sackgasse.

„Picknick in Moria“ ist als Geschichte über einen kreativen Akt des Widerstandes und über Triumph und Erlösung angelegt. Er zeigt aber auch, wie prekär nicht nur die Lebensverhältnisse, sondern auch das Seelenleben der Mitwirkenden ist. Immer wieder kommen traumatische Erfahrungen der Flucht zum Vorschein. Die Erlösung ist ein langer und steiniger Weg mit überraschenden Wendungen.

Das Streben nach Würde

Gerade die unerwarteten psychologischen Untiefen machen Lužytes Arbeit so berührend. Moria steht für Europas Schande. Dieser Film erzählt von dem Versuch, dieser Schande zu trotzen. Mit Empathie und präzisem Blick bringt uns die KünstlerinMenschen näher, die sich in ein kreatives Abenteuer stürzen, das ungeahnte Dynamiken freisetzt. Der Film ist ein Dokument des Strebens nach Würde. Und zugleich eine unaufgeregt eingefangene, aber sehr wirkungsvolle Anklage, die den Geflüchteten eine Stimme gibt.

Info: „Picknick in Moria - Blue Red Deport“ (Deutschland 2022), ein Film von Lina Lužyte, mit Talibshah und Yasamin Hosini, ihren Töchtern Farima, Parisa und Marjan und vielen anderen, 96 Minuten.
http://farbfilm-verleih.de/filme/picknick-in-moria-blue-red-deport/
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