Kultur

Filmtipp „Niemand ist bei den Kälbern“: Sehnsüchte zwischen Windrädern

In der Hitze des Sommers beginnt sich das Leben wieder zu drehen: „Niemand ist bei den Kälbern“ wirft einen schonungslosen Blick auf das Landleben und porträtiert eine unsichere, aber entschlossene Frau.
von ohne Autor · 21. Januar 2022
Von wegen ländliche Idylle: Christin (Saskia Rosendahl) sucht einen Ausweg aus der Ödnis.
Von wegen ländliche Idylle: Christin (Saskia Rosendahl) sucht einen Ausweg aus der Ödnis.

Christin hat Bedürfnisse, doch darüber macht sie nicht viele Worte. Wahrscheinlich hat es die junge Frau, die langsam in ihrem Fünf-Häuser-Dorf versauert, nie gelernt. So tut sie es auch nicht in dem Moment, der einen Ausweg aus Langeweile und Frust verspricht. „In der Scheune da hinten lagen wir Stroh“, sagt sie zu dem fremden Mann im Transporter. Es ist ein heißer Sommertag. Klaus ist von Hamburg nach Mecklenburg gekommen, um Windräder zu warten.

Kaum sind die kargen Worte gesprochen, stehen die beiden tatsächlich in der heruntergekommenen Scheune. Es folgt schneller, ruppiger Sex. Der Beginn einer wunderbaren Romanze sieht wohl anders aus.

Viele Großstädter träumen vom Leben auf dem Land. Meist blenden sie aus, was es heißt, dort zu arbeiten oder womöglich in einer verlorenen Gegend seinen Lebensmittelpunkt zu haben. So wie Christin und ihr Freund Jan. Gemeinsam bewirtschaften sie den Hof von Jans Vater. Eines Tages sollen sie ihn übernehmen. Viel Milchvieh und viel Handarbeit. Viel Routine und viel Schweigen. Pflichten anstelle von Träumen. Kaum noch Leidenschaft füreinander.

Bauchfrei im Kuhstall

Christin will mehr, ohne zu wissen, was. Ein diffuser Traum vom Leben in der Stadt. Vielleicht ein eigener Laden? Weg vom bäuerlichen Einerlei, hin zum schönen Konsum. Diese Anti-Haltung unterstreicht sie mit ihrem Äußeren. Wer sonst geht schon in Hotpants und bauchfreiem Oberteil in den Kuhstall?

Nicht nur mit dem ständigen Griff zum Smartphone zeigt sie, dass sie ihr eigentliches Zuhause woanders sucht. Als Klaus in ihr Leben tritt, scheint sich eine Tür zu öffnen. Was wird die Mittzwanzigerin dahinter finden? Ist sie bereit, in ein neues Leben aufzubrechen?

Keine Idylle auf dem Land

„Niemand ist bei den Kälbern“ erzählt von festgefahrenen Biografien zwischen Äckern, Ställen und Dorfdisko. Von Idylle keine Spur. Viel Weite, aber auch viel Druck und Enge. Zum Beispiel im Verhältnis zwischen den Geschlechtern. Spürbar ist dies im Alltag auf Christins Bauernhof. Jans Vater und seine neue Frau leben ebenfalls dort. Konflikte sind offenkundig, werden aber nicht angespochen.

Der Kontrast aus landschaftlicher Weite und geistig-emotionaler Enge wird in äußerst ruhigen, ausschließlich mit der Handkamera gefilmten Bildern eingefangen. Sie geben der Erzählung einen ruhigen Fluss und leben dennoch von einem auf das Unmittelbare abzielenden Blick.

Der Osten blutet aus

Nach dem Ende der DDR zog es besonders viele Frauen fort von den ländlichen und strukturschwachen Gegenden Ostdeutschlands. Zurück blieben die, die es „nicht geschafft“ haben. Dieses Narrativ ist weit verbreitet und statistisch untermauert. Das gesellschaftliche Ausbluten im Osten während der 90er-Jahre schwingt auch in dem zweiten Langfilm von Sabrina Sarabi mit. Christins Mutter ging weg und die Familie zerbrach. Der Vater säuft sich durch den Tag. Auch die Tochter nimmt ständig einen Schluck aus der Pulle.

Aus weiblicher Perspektive skizziert die deutsch-iranische Regisseurin ein letztendllich ödes Miteinander, das den Menschen nur die Wahl zwischen Verbissenheit und Orientierungslosigkeit bietet. Jan und Christin verkörpern diesen Gegensatz, der vielleicht gar keiner ist.

Vergangenheit ausgeblendet

Für dieses intensive, am Dokumentarischen orientierte Drama adaptierte die 1982 geborene Filmemacherin den gleichnamigen Roman von Alina Herbing. Im Gegensatz zum Buch bleibt die jüngere Vergangenheit allerdings außen vor. „Niemand ist bei den Kälbern“ fühlt sich ganz im Hier und Jetzt zu Hause.

So wie Christin. Was sie beschäftigt, ist oft nur zu erahnen. Der eingangs erwähnte Satz ist ihr längster im gesamten Film. Und doch lässt sie uns ihre Wut, ihre Gier und ihre Lust spüren. Nicht Worte, sondern Bewegungen und Blicke treiben die Erzählung gemächlich, aber unablässig voran. Diese karge Energie lässt einen erbeben. Sie nimmt uns für Christin ein, selbst wenn sie oft weder nachvollziehbar noch besonders sympathisch handelt.

Trotz all ihrer Schwächen, der übermächtigen Hindernisse und der unerbittlichen Kamera, die bis in intimste Situationen und Körperzonen vordringt: Nie wird Christin zum Objekt, stets agiert sie als Subjekt. Nicht nur, aber gerade aus Sicht der Städter von außen.

Eine besondere und bleibende Wucht

Nach „Prélude“ ist es für Hauptdarstellerin Saskia Rosendahl, die zuletzt unter anderen in „Fabian und der Gang vor die Hunde“ zu sehen war, die zweite Zusammenarbeit mit Sabrina Sarabi. Mit ihrem körperlichen Spiel und einer stoischen Fassade, die nur selten gelüftet wird, trägt vor allem sie den Film. Beim Internationalen Filmfestival von Locarno, wo „Niemand ist bei den Kälbern“ Weltpremiere feierte, wurde die 28-Jährige als beste Schauspielerin ausgezeichnet.

Durch seinen präzisen und klischeefreien Blick auf eine ländliche Sinnkrise überzeugt der Film auf ganzer Linie. Dass dabei eine besondere und bleibende Wucht entsteht, ist aber vor allem Saskia Rosendahls Verdienst.

Info: „Niemand ist bei den Kälbern“ (Deutschland 2021), ein Film von Sabrina Sarabi
nach dem gleichnamigen Roman von Alina Herbing, Kamera: Max Preiss, mit Saskia Rosendahl, Rick Okon, Godehard Giese u.a., 116 Minuten
http://www.weydemannbros.com/filme/niemand-ist-bei-den-kaelbern

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