Kultur

Filmtipp „Nawalny“: Warum Putins Todfeind weiter alles riskiert

Eine Recherche wie ein Thriller: Der Dokumentarfilm „Nawalny“ rekonstruiert den Giftanschlag auf Russlands bekanntesten Putin-Kritiker. Es ist aber auch ein berührendes Porträt eines unerschrockenen und zu allem entschlossenen Menschen.
von Nils Michaelis · 6. Mai 2022
Immer im Blick: Alexej Nawalny stellte sich in den Interviews für den Film einigen unbequemen Fragen.
Immer im Blick: Alexej Nawalny stellte sich in den Interviews für den Film einigen unbequemen Fragen.

Viele fragen sich: Was würde Alexej Nawalny in diesen Tagen sagen? Jetzt, wo das Putin-Regime mit dem Krieg gegen die Ukraine eine neue Stufe der Brutalität erreicht hat? Eigentlich hat Russlands prominentester Oppositionspolitiker bereits etwas gesagt, allerdings nicht so aufwendig inszeniert und reichweitenstark wie in seinen Internet-Videos, in denen er Fälle von Korruption offenlegte, gegen den Kreml wetterte und so zum Todfeind des Präsidenten wurde.

Anfang März war es Nawalny gelungen, aus der Strafkolonie eine kleine Botschaft auszusenden: Die Russen sollen jeden Tag gegen die Invasion auf die Straße gehen. Ob dieser Aufruf erfolgreich war, erscheint fraglich. Wenige Wochen später wurde Nawalny zu einer weiteren mehrjährigen Haftstrafe verurteilt.

Abgründe des Putinismus

Es fällt schwer, die neue Monstrosität der russischen Realität, die vielleicht sogar Nawalny überrascht, auszublenden, wenn man sich diesen Dokumentarfilm anschaut. Dabei bietet dieser genügend Beispiele für die Abgründe des Putinismus. Der Film beginnt und endet mit der Frage an den Protagonisten, welche Botschaft von ihm bleiben soll, wenn ein erneuter Mordversuch tödlich endet. „Gebt nicht auf“, lautet seine Antwort.

Nicht aufgeben: Diese Haltung, die Nawalny in seinem jahrelangen Kampf gegen Russlands korrupte Eliten immer gelebt hat (und wohl immer noch lebt) greift der kanadische Regisseur Daniel Roher in mehreren Erzählsträngen auf. Der Film lässt vergangene Prozesse, Demonstrationen und Recherchereisen Revue passieren.

Von Deutschland zurück ins Leben

Wir sehen, wie sich Nawalny nach der offenkundig vom Geheimdienst verübten Attacke mit dem Nervengift Nowitschok im August 2020 in Deutschland zurück ins Leben kämpft. Und nicht nur das: Von einem kleinen Ort im Schwarzwald aus startet der heute 45-Jährige seinen nächsten Schlag gegen den Kreml: Diesmal geht es allerdings um ihn persönlich.

Mit seinem Team aus Russland macht sich der Aktivist daran, den von Moskau bis heute geleugneten Giftanschlag aufzuklären. Entscheidende Impulse erhält die Gruppe von einem Investigativjournalisten des Recherchenetzwerks Bellingcat. Bei der gemeinsamen Spurensuche fördern sie Dinge zutage, die dem Kreml übel aufgestoßen sein dürften. Wie bei einem klassischen Enthüllungsthriller gehen die Zuschauenden auf der Treppe der Erkenntnis jede Stufe mit.

Teil der Aufklärung

Das Besondere an diesem Film ist, dass er nicht etwa im Nachgang dieser Recherche entstanden ist. Roher war live mit der Kamera dabei, als Nawalny und seine Mitstreiter*innen bei ihren Nachforschungen den Geheimdienstkreisen immer näherkamen. Der Filmemacher wurde gewissermaßen ein Teil des Aufklärungsteams.

Vor diesem Hintergrund ist es umso verdienstvoller, dass der Film dennoch genügend Distanz gegenüber Nawalny wahrt. Dieser wird nicht zum Heiligen stilisiert, sondern in den zahlreichen Interviewszenen auch zu seinen weniger glanzvollen Seiten befragt. Zum Beispiel, warum er sich früher Seite an Seite mit russischen Ultranationalisten auf Kundgebungen filmen ließ. In solchen Momenten gibt sich Nawalny selbstkritisch und offenbart Zwischentöne, die der öffentlichen Figur meist abgehen. Trotz seiner oftmals galligen Rhetorik kann er durchaus charmant sein. Überwiegend bleibt er aber doch ein Medienprofi, der immer eine schlüssige Antwort hat, die in sein Konzept passt.

Bei einem Menschen wie Nawalny, der es versteht (und auch lange Zeit darauf angewiesen war), insbesondere die Sozialen Medien für sich zu nutzen, verwundert es nicht, dass eine Flut von Bildern und Videos von ihm existiert. Viele davon stammen von seinen Mitarbeiter*innen.

Überraschende Einblicke aus der Nähe

Roher nutzte dieses Material nicht nur, um seine in der Gegenwart verortete Erzählung in einen Langzeitkontext einzubinden. Auch die dramatischen Ereignisse nach dem Attentat auf Nawalnys Leben in Sibirien wurden seinerzeit ausgiebig per Handy dokumentiert und ermöglichen Einblicke jenseits der Hauptnachrichten im deutschen Fernsehen.

„Nawalny“ zeigt die Hauptfigur aus vielerlei Perspektiven und kommt ihr dabei sehr nah. Dass sich aus diesem Bildmaterial verschiedenster Herkunft eine atmosphärisch dichte, spannende und schlüssige Erzählung formt, ist nicht nur ein Verdienst des virtuosen Schnitts. Roher lässt das, was Nawalny antreibt, nie aus den Augen. Gleichzeitig bleibt Putins Gegenspieler dabei als Mensch immer greifbar. Als ein Mensch, der alles riskiert, aber keinesfalls als Märtyrer enden möchte.

Info: „Nawalny“ (USA 2021), ein Film von Daniel Roher, Schnitt: Langdon Page, Maya Daisy Hawke, mit Alexej Nawalny, Julia Nawalnaja, Christo Grozew, Kira Jarmysch u.a., 99 Minuten.
www.dcmstories.com/de/collection/nawalny/
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