Kultur

Filmtipp „Mi pais imaginario“: Das weibliche Gesicht der Revolution

Aufwühlende Aufnahmen von der Frontlinie des Massenprotestes: Der Dokumentarfilm „Mi país imaginario – Das Land meiner Träume“ erzählt vom größten gesellschaftlichen Aufbruch in Chile seit den 70er-Jahren - ganz vorn: Frauen.
von ohne Autor · 14. April 2023
Sie prägten das Gesicht der Proteste in Chile 2019: Frauen kämpfen gegen das Patriarchat.
Sie prägten das Gesicht der Proteste in Chile 2019: Frauen kämpfen gegen das Patriarchat.

Die Erhöhung der Metrotickets brachte das Fass zum Überlaufen: Im Herbst 2019 begann die zweite chilenische Revolution. An einem einzigen Tag protestierten in der Hauptstadt Santiago gut 1,2 Millionen Menschen für Reformen. Es war der größte soziale Aufstand in der Geschichte des Landes. Zum ersten Mal seit den Tagen des sozialistischen Präsidenten Salvador Allende – er wurde 1973 von den putschenden Militärs um Augusto Pinochet ermordet – schien es möglich, dass eine politische Massenbewegung das Land in eine gerechte Zukunft führt.

Straßenschlachten in der Hauptstadt

Wie kam es dazu, dass sich so viele Menschen – darunter besonders viele Frauen beziehungsweise junge Menschen – Straßenschlachten mit Polizei und Armee lieferten, den Weg hin zu einer neuen Verfassung ebneten und den linksgerichteten Politiker Gabriel Boric ins Präsidentenamt trugen? Das fragen sich außerhalb Chiles noch immer viele.

Der chilenische Filmemacher Patricio Guzmán („Die Kordillere der Träume“) suchte nach Antworten. Selbst schon fast ein Außenstehender, kehrte er aus dem Pariser Exil zurück in seine Geburtsstadt Santiago. Wie in vielen anderen seiner Werke zur Geschichte des Landes ging der mittlerweile 81-Jährige dem Warum nach. Hierfür trug er ein Panorama vieler Stimmen zusammen, die einem bewusstmachen, was in dem südamerikanischen Staat auf dem Spiel stand und noch immer steht.

Krasse soziale Spaltung in Arm und Reich

Der Filmtitel ist doppeldeutig: In seinem Off-Text skizziert Guzmán ein zukünftiges Chile, das endgültig mit der Pinochet-Diktatur und ihrem neoliberalen Erbe bricht. Andererseits ist das „Land seiner Träume“ bereits Realität geworden. In Gestalt der Menschen, die nicht mehr in einem „Einkaufszentrum“ leben wollen, das über das höchste Pro-Kopf-Einkommen Südamerika verfügt, aber auch eine außerordentlich krasse Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich aufweist.

Die Kamera führt uns bis an die vorderste Front des Straßenkampfes – vom konservativen Ex-Präsidenten Sebastián Piñera als „Krieg“ bezeichnet. In langen Einstellungen ist zu sehen, wie sich unerschrockene Protestierende den Polizisten und Soldaten mit ihren gepanzerten Fahrzeugen entgegenstellen. Die staatliche Gewalt ist erschreckend. 34 Menschen starben in den Häuserschluchten und 460 Menschen wurden verletzt: Etliche verloren ein Auge, weil Sicherheitskräfte ihre Gummigeschosse bewusst in die Gesichter feuerten. Viele der Bilder tragen gerade wegen ihrer Authentizität ikonografischen Charakter.

Polizei und Militär verbreiten Angst und Schrecken

Die Protestaktionen unter dem Motto des Alles oder Nichts ziehen sich auch die Interviews mit Beteiligten und Zeitzeuginnen. Auch nach dem Ende der Diktatur verbreiten Polizei und Militär in Chile Angst und Schrecken. Eine vermummte Aktivistin beschreibt, wie sie vor jeder Kundgebung das Schlimmste befürchtet und mit dem Leben abschließt. Eine Fotografin erklärt, warum sie ganz bewusst riskiert, im Dienst an der Sache ein weiteres Auge ramponieren zu lassen.

In den Gesprächen wird aber auch deutlich, wie sich aus protestierenden Massen jenseits der politischen Parteien eine Bewegung mit einer politischen Agenda formiert, die in eine neue Verfassung gegossen werden soll. Diese beinhaltet etwa eine faire Verteilung des Reichtums und wendet sich gegen die Ausgrenzung von sexuellen Minderheiten, Indigenen und Frauen.

Patriarchat als Kitt einer autoritären Gesellschaft

Immer wieder geht es gegen das Patriarchat. Es erscheint als Kitt und geistiger Überbau einer im Grunde noch immer autoritären Gesellschaft. Dass Guzmán ausschließlich weibliche Gesprächspartner*innen zu Wort kommen lässt, liegt aber aber auch daran, dass Frauen das Gesicht des Protestes prägten, der erst im Zuge der Corona-Pandemie eingedämmt wurde. Nicht nur, aber auch dank einer Gesangs- und Tanzperformance des Collectivo LasTesis, die im Netz viral ging und von Tausenden Frauen vor der Kamera nachgemacht wird: In vielen aufwühlenden Szenen zeigt sich, wie Wut und Kreativität den Massenprotest beflügeln.

Im Austausch mit Protestierenden und Beobachterinnen agiert Guzmán wie ein Staunender. Gleichzeitig schlägt der Doyen des chilenischen Dokumentarfilms immer wieder den Bogen zu eigenen Erfahrungen als politisch engagierter Künstler. 1971 lief sein Film über Allendes erstes Regierungsjahr in den chilenischen Kinos. Nach dem Militärputsch wurde Guzmán mit zahllosen anderen Pinochet-Gegnern im Nationalstadion von Santiago festgehalten. Wenige Jahre später veröffentlichte er die Filmtrilogie „Die Schlacht um Chile“.

Noch ein weiter Weg für Chile

Mittels seiner Bildgewalt und der berührenden Einblicke in das Leben mutiger Akteurinnen verbreitet „Das Land meiner Träume“ Hoffnung. Zugleich wird deutlich, dass Chile noch einen weiten Weg vor sich hat. Den ersten Entwurf einer progressiven Verfassung hat eine breite Mehrheit im vergangenen Jahr abgelehnt. Nicht nur für Guzmán bleibt noch viel zu tun.

Info: „Mi país imaginario - Das Land meiner Träume“ (Chile/Frankreich 2022), ein Film von Patricio Guzmán, Kamera: Samuel Lahu, 83 Minuten, OmU.
www.realfictionfilme.de
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