Filmtipp „Meister der Träume“: Afghanistans Kino-Legende trotzt den Taliban
Hat man jemals eine derart große Menschenmenge in Afghanistan so ungezwungen lachen sehen? Wie gebannt schauen die Männer auf eine Filmleinwand. Dort wird gezeigt, wie ein Mann mit seinem Maschinengewehr eine Reihe von Bösewichten zur Strecke bringt. Eigentlich brutal, doch irgendwie auch komisch, vor allem ziemlich improvisiert. In der nächsten Szene gibt der Held im Vollplayback ein schmalziges Lied zum Besten.
Der Steven Spielberg Afghanistans
Keine große Kunst, möchte man meinen. Doch mit derlei Werken macht der Hauptdarsteller, Regisseur und Produzent Salim Shaheen zahllose Menschen in dem von Krieg und Terror geschundenen Land glücklich. Mit Geschichten, die ihr Leben widerspiegeln und zugleich Hoffnung spenden. Und das seit gut 30 Jahren. Manche nennen ihn den „Steven Spielberg Afghanistans“.
Ebenso wie jener Blockbuster-Regisseur versteht es auch Shaheen, die Menschen zu verzaubern, wenn auch unter völlig anderen Umständen. Bei Reisen durchs Land wird er von jubelnden Fans empfangen. Nach dem Sturz der Taliban, die wegen des Bilderverbots in ihrer radikalen Auslegung des Islams sämtliche Kinos geschlossen hatten, erlebt er den Höhepunkt seiner Karriere und dreht bis zu zehn Filme pro Jahr. Auch derzeit ist Shaheen gut im Geschäft. Allein das zeigt, wie sehr seine Traumfabrik von der politischen Lage am Hindukusch beeinflusst wird.
Kunst und Leben bedingen einander
Die französische Dokumentarfilmerin und langjährige Afghanistan-Korrespondentin Sonia Kronlund begleitete Shaheen bei den Dreharbeiten zu seinem 110. Streifen. Eine Arbeit, die sich vor allem um sein eigenes Leben dreht: Vom unverstandenen jugendlichen Kinofan bis hin zum sowjetfreundlichen Soldaten, der als einziger seiner Einheit einen Angriff der Mudschaheddin überlebt. Für die Französin ist dies einer von vielen Anknüpfungspunkte, um der Frage nachzugehen, wie Kunst und Leben in Shaheens Schaffen einander bedingen.
Mag auch seine neueste Produktion von Pathos und Kitsch durchtränkt sein: Die materiellen Bedingungen seines Schaffens beschreibt Shaheen vor der Kamera völlig nüchtern: „Hollywood? Bollywood? Afghanistan ist Nothingwood. Hier gibt es weder Geld noch Equipment.“ Gleichwohl sind die Kinoindustrie der USA und Indiens wie Leuchttürme für sein Schaffen, das sich in etwa zwischen Trash nach „Rambo“-Art und Liebesschnulze bewegt.
Wie eine Improvisationsgruppe von Schülern
Wenn Shaheen mit seinem Team in der Gegend rund um das zentral-afghanische Bamiyan, wo er Mitte der 60er-Jahre geboren wurde, loslegt, fühlt man sich eher an ein Improvisationsgruppe von Schülern als an ein Filmteam erinnert: Anstelle von Profi-Schauspielern werden Verwandte, Freunde und Fans gecastet. Viele bezahlen sogar dafür, einmal mit ihrem Idol arbeiten zu dürfen.
Shaheen behält vor und hinter der Kamera die Fäden in der Hand. Zwischen den Takes mit der Handkamera vor afghanischen Berghängen dirigiert er die Laiendarsteller wie ein Feldwebel, immer wieder ist sein markerschütterndes „Action!“ zu hören. Für einen kurzen Moment ist der brutale Alltag des Landes wie ausgeblendet
Grausame Realität islamistischer Kulturbarbarei
Doch genau jene oft grausame Realität holt Kronlund immer wieder zurück ins Bewusstsein. Zum Beispiel, wenn sie Bilder eines Terroranschlags zeigt, der sich während der Dreharbeiten anderenorts ereignet hat. Vor allem aber, indem sie immer wieder selbst zur Szene-Akteurin wird und Shaheens Unerschrockenheit vor den Gefahren des Alltags sowie seine Lebensumstände hinterfragt, aber auch aus der politischen Reserve lockt.
Vor der Kulisse der zerstörten Buddha-Statuen von Bamiyan attackiert er die Kulturbarbarei der Taliban, zeigt sich zugleich aber auch als Anhänger konservativer Traditionen, wenn er sich weigert, seine beiden Frauen filmen zu lassen oder auch nur deren Namen zu nennen.
Er schafft aus dem Nichts Träume
„Ich bewundere, dass Shaheen immerzu Filme macht, als wäre es eine Lebensnotwendigkeit, mit enormer Energie und unerschütterlichem Glauben an das, was er tut“, sagt Kronlund. „Unabhängig von der Qualität seiner Filme macht sein Werk dem afghanischen Volk Freude, weil es ihm ein Gesicht und eine Stimme verleiht, die es nirgendwo sonst findet. Dieser Mann hat es geschafft, aus dem Nichts Träume zu schaffen.“
Gleichwohl ist Kronlunds Film nicht als Hommage zu verstehen. Sie zeigt den „Zauberer“ nicht nur als Visionär und Freund der kleinen Leute, sondern auch in seinem geradezu kindlichen und herrschsüchtigen Größenwahn. Zugleich ist immer wieder zu erleben, welch großen Gefahren sich der Superstar und seine Mitstreiter mit ihrer aus westlicher Sicht recht harmlosen künstlerischen Arbeit aussetzen. Um den bis heute einflussreichen Taliban zu trotzen, braucht es womöglich das Naturell von einem wie Shaheen.
Info: „Meister der Träume“ (Frankreich/Deutschland 2017 ), ein Film von Sonia Kronlund, mit Salim Shaheen, Sonia Kronlund u.a., Sprachen: Persisch/Dari und Französisch mit deutschen Untertiteln, 85 Minuten, ab zwölf Jahre.
Ab sofort im Kino