Filmtipp „Mariupolis 2“: Bilder einer sterbenden Stadt in der Ukraine
Als Mariupol starb, schien die Sonne. Das strahlende Licht verleiht vielen Bildern in „Mariupolis 2" einen seltsamen Kontrast zu den Eindrücken von Elend und Zerstörung. Aber auch eine gewisse Kraft. Als würde sich ein Rest von Leben gegen das Inferno in der umkämpften Stadt stemmen.
Der Angriff Russlands änderte alles
Die Aufnahmen stammen von Mantas Kvedaravičius. Kurz nach dem Beginn von Russlands Invasion in der Ukraine reiste der litauische Filmemacher nach Mariupol. In eine Stadt, der er bereits 2016 einen Dokumentarfilm gewidmet hatte. Damals fing er die Situation während des Waffenstillstandes ein, nachdem ukrainische Kämpfer die strategisch wichtige Hafenstadt von prorussischen Milizen zurückerobert hatten.
Nun kehrte er dorthin zurück. Ihm ging es darum, den Alltag der Zivilisten unter russischer Belagerung aus nächster Nähe einzufangen, frei von irgendwelchen Sichtweisen von außen. So, wie er es zuvor auch in anderen Krisengebieten getan hatte. Anfang April wurde der Regisseur von russischen Soldaten erschossen, als er dabei half, Menschen aus der zerstörten Stadt zu bringen. Mantas Kvedaravičius wurde 45 Jahre alt. Seine Lebensgefährtin Hanna Bilobrowa schmuggelte den Leichnam und das Filmmaterial nach Litauen. Dort stellte sie „Mariupolis 2" gemeinsam mit Cutterin Dounia Sichov fertig.
Um Ordnung im Schutzraum bemüht
Der zentrale Schauplatz des Films ist ein kirchliches Gemeindezentrum am Stadtrand. Im Keller haben sich rund 40 Menschen aus der Nachbarschaft verschanzt. Die Not ist groß, doch immerhin gibt es zu essen. Unter Lebensgefahr kochen die Männer und Frauen wässerige Suppen in dem von Trümmern übersäten Hof.
Wochenlang begleitete Kvedaravičius sie durch den Alltag. Vor jeder Mahlzeit ein Gebet: Man ist um eine gewisse Ordnung bemüht. Doch die immer näherkommenden Einschläge machen klar, dass dieses Zusammenleben von kurzer Dauer sein könnte. Immer wieder gerät das Asow-Stahlwerk in den Blick. Von dort dröhnt das unablässige Grollen von Artillerie und Raketenwerfern. Immer höher lodern die Flammen.
Die Alltäglichkeit von Gewalt
Persönliche Nähe sei ein Schlüssel, um ein Gefühl für die Alltäglichkeit zu bekommen, auch für die Alltäglichkeit von Gewalt, soll Kvedaravičius über seine Arbeitsweise gesagt haben. „Mariupolis 2" legt davon Zeugnis ab. Der Regisseur wurde selbst zum Schutzsuchenden. Beim Gang nach draußen beratschlagt er sich mit seinen Begleitern, was nun zu tun sei. Das tat seinem präzisen dokumentarischen Blick keinen Abbruch. Immer wieder zeigt Kvedaravičius, was dieses Leben mit den Menschen anstellt und was es bedeutet, wenn es nur noch darum geht, zu überleben.
Zum Beispiel in einem der seltenen Momente, wenn die Kamera den klaustrophobischen Zufluchtsort verlässt. Zwei Männer freuen sich, weil sie in einem Haus einen Stromgenerator gefunden haben. Die Leichen der Bewohner lassen sie einfach liegen.
Menschen wie Geister in Ruinen
Diese und viele andere Momentaufnahmen wurden in langen Einstellungen und mit unbewegter Kamera eingefangen. So kann das Auge, anders als in der hektischen Abfolge von Nachrichtenbildern, in aller Ruhe Details der Ruinenlandschaft ergründen. Den häufig wie Geister durchs Bild schwirrenden Menschen kommt der Blick des Regisseurs nur selten wirklich nahe. Das liegt auch daran, dass Kvedaravicius oft von schlecht ausgeleuchteten Punkten am Rande des Schutzraumes unter dem Gotteshaus gefilmt hat.
Es wäre sinnlos und unfair, „Mariupolis 2" nach den klassischen Kriterien eines Dokumentarfilms zu bewerten. Dafür waren die Umstände des Drehs zu extrem. Rein ästhetisch betrachtet, ist die Erzählweise recht monoton und fragmentarisch. Doch wie hätte sie angesichts des ständigen Beschusses auch anders sein können?
Ein großer Verlust
Es spricht viel dafür, den Film als „Dokument" zu sehen. Oder, wie es in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" nach der Weltpremiere in Cannes hieß, als "Flaschenpost". Diese sollte vor allem all jene wachrütteln, die Russlands menschenverachtenden Krieg verharmlosen oder rechtfertigen. „Mariupolis 2" ist ein Aufschrei gegen das von Menschen über Menschen gebrachte Verderben, mitunter aber auch ein Schrei des Lebens in dunklen Tagen.
„Dieser Mut, dieser unbedingte Wille, Menschenrechtsverletzungen aufzuzeigen und einer Öffentlichkeit zugänglich zu machen, hat Mantas Kvedaravicius ausgezeichnet", heißt es in einem Nachruf von Amnesty International. Sein letztes Werk unterstreicht diese Haltung auf tragische Weise. Zugleich macht der Film uns bewusst, wie groß die Lücke ist, die sein Schöpfer hinterlässt.
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