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Kultur

Filmtipp: Lesbos - Sehnsuchtsort und nasses Grab für Flüchtlinge

Das Meer vor der griechischen Insel Lesbos wurde für viele Flüchtlinge zur tödlichen Falle. Der Dokumentarfilm „The Remains – Nach der Odyssee“ erzählt davon, wie die Hinterbliebenen mit dem Verlust leben. Und was von den Ertrunkenen bleibt.
von ohne Autor · 27. September 2019

Die Felsen von Lesbos waren für viele Flüchtlinge ein Sehnsuchtsort, doch viele von ihnen  fanden dort nach der kurzen Überfahrt von der Türkei den Tod. Weil die griechische Insel an dieser Seite keinen wirklichen Ort zum Anlegen gibt, sind gerade die letzten Meter die gefährlichsten. Immer wieder kenterten oder zerschellten die Boote der Schlepper und zogen die Passagiere mit in die Tiefe. Das Ausmaß der menschlichen Tragödie, die sich dort während der Hochphase der längst gestoppten Flüchtlingsbewegung vom türkischen Festland nach Griechenland abgespielt hat, ist grenzenlos.

In „The Remains – Nach der Odyssee“ macht die Wiener Dokumentarfilmerin Nathalie Borgers („Fang den Haider“) dieses Leid greifbar. Zunächst konfrontiert sie uns mit einer schockierenden Zahl. In den letzten 25 Jahren haben 30.000 Menschen im Mittelmeer den Tod gefunden. Im Mittelpunkt ihrer Beobachtung steht das, was im mehrfachen Sinne von denen, die den gefährlichen Trip in die Freiheit nicht überlebt haben, bleibt. Etwa deren Körper. Unzählige Flüchtlingsleichen werden erst nach Jahren geborgen und müssen dann noch identifiziert werden. Etliche liegen, womöglich für immer, auf dem Meeresboden. Womit wir bei den Hinterbliebenen wären. Oft leben sie in jahrelanger Ungewissheit darüber, wo die Überreste ihrer Eltern, Ehepartner oder Kinder geblieben sind. Sie bestatten zu können, würde ihr ohnehin schon immenses psychisches Leid lindern.

Makabre Attrappen

Borgers geht diesem Komplex auf zwei Ebenen nach: Auf Lesbos führt sie uns gewissermaßen an die vorderste Front. Sie begleitet einen ehemaligen Flüchtling aus Afghanistan dabei, Begräbnisse für ertrunkene Migranten zu organisieren. Dazu gehört auch, mit weit entfernt lebenden Angehörigen Details über einen Grabstein zu klären. Wir sehen, wie Mitarbeiter der Küstenwache mittels makaber anmutender Attrappen darin geschult werden, Leichen zu bergen und zu identifizieren. Oder wie Flüchtlinge aus Habseligkeiten derer, die es nicht geschafft haben, eine kunstvolle Collage zu formen, um auf das Massensterben aufmerksam zu machen.

Ein weiterer und erzählerisch intensiverer Strang rankt sich um das, was die Hinterbliebenen durchmachen. Dafür begleitete Borgers eine aus Syrien stammende Familie, die mit viel Mühe in Wien zumindest zeitweise wieder zusammengefunden hat. 13 Mitglieder hat das Meer verschlungen und noch nicht wieder preisgegeben. Als Farzad seine drei aus der Türkei angereisten Schwestern vom Flughafen abholt, ist zwischen den jungen Leuten Freude und Zuversicht zu spüren. 

Vater Mohammad ist hingegen wie versteinert. Er erträgt dieses Leben, mit dem er längst abgeschlossen hat, nur mit Beruhigungsmitteln. Man hat den Eindruck, als sei die Armada von Pillen, die er bei sich trägt, das einzige, was Ärzte und Behörden für ihn tun können. Zu groß ist der Schmerz über den Verlust von Enkeln, Ehefrau und all die anderen. Wahrscheinlich sah er sogar von einem Fischerboot dabei zu, wie sie untergingen. „Ich weiß nicht mehr, wo oben und unten ist“, sagt er. Seine ehedem gewohnte Rolle als Familienoberhaupt kann und will er nicht mehr ausfüllen.

Mit allem abgeschlossen

Hinzu kommt, dass es für Mohammad unbegreiflich ist, dass ein weiterer Überlebender nicht dauerhaft bei ihnen bleiben darf: Sohn Imad lebt in Deutschland. Vielleicht war dies sogar sein Ziel. Eine Familienzusammenführung in einem anderen Land sieht das deutsche Asylrecht allerdings nicht vor. Mehrfach betont Imad, dass er die Flucht auf sich genommen hat, um seinen Kindern eine Zukunft in Sicherheit bieten zu können. Stattdessen ist er nun damit beschäftigt, vom Saarland aus zu erforschen, wo ihre sterblichen Überreste zu finden sind. Wie viel Kraft ihn dieses, ebenfalls von Medikamenten geprägte, Dasein kostet, ist nur zu erahnen.

„The Remains“ berührt gerade dadurch, dass Aspekte des an sich zeitlosen Fluchtthemas, die Empörung und Erschütterung hinterlassen, äußerst behutsam, geradezu leise, geschildert werden. Gerade dadurch bekommt man ein Gefühl für die Stille und die Leere, die in den Alltag der Überlebenden eingezogen ist. Jeder Tod reißt eine Lücke und lässt das Weltbild wanken. „Traumatisierte Flüchtlinge“ sind im öffentlichen Diskurs fast schon zu einem Allerweltsbegriff geworden. Nathalie Borgers zeigt in ihrem ebenso nüchternen wie engagierten Film anhand Betroffener, was dahintersteckt. Und was die Regierungen der Länder, in denen sie eine neue Heimat gefunden haben, tun könnten, um den Leidensberg zumindest etwas kleiner zu machen. 

 

„Remains – Nach der Odyssee“ (Österreich 2019), ein Film von Nathalie Borgers, 90 Minuten. Im Kino.

 

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