Kultur

Filmtipp „Kiezfilme 1965-2004“: Vom Großstadtleben in zwei Systemen

Kleinkriminelle, Alleinerziehende und Touristenhasser*innen in Berlin-Prenzlauer Berg: Die jetzt erschienene DVD „Kiezfilme 1965 – 2004“ bietet eindringliche Einblicke in den urbanen Alltag der DDR und der Bundesrepublik.
von ohne Autor · 3. April 2020
Treffpunkt für Generationen: der Kollwitzplatz in Berlin-Prenzlauer Berg im Jahr 1979.
Treffpunkt für Generationen: der Kollwitzplatz in Berlin-Prenzlauer Berg im Jahr 1979.

In der Husemannstraße schimpfen sie mal wieder über die Tourist*innen. In Scharen strömen diese durch die Prachtmeile aus der Gründerzeit und wissen sich nicht zu benehmen. Wir schreiben allerdings nicht das Jahr 2020, sondern 1987.

Wem gehört die Straße?

Und die, die über den Alltag im Kiez berichten, sind keinesfalls die oft belächelten, zugezogenen Öko-Biedermeier-Bürger*innen, sondern gänzlich unprätentiöse Rentnerinnen, eine Frisörin und weitere Anwohner*innen aus dem Kollwitzkiez in Berlin-Prenzlauer Berg. Der damalige Filmstudent Jens Becker, der später als Drehbuchautor und Regisseur reüssierte, befragte sie seinerzeit für seinen zwölfminütigen Dokumentarfilm „Wessen Straße ist die Straße“.

Jene Arbeit ist eine von vielen, die in den letzten fünf Jahren bei dem Filmfestival „Prenzlauer Berginale“ gezeigt und für die DVD „Kiezfilme 1965 – 2004“ ausgewählt wurden. In Form, Ästhetik, Zugriff und Brisanz unterscheiden sich die insgesamt elf Werke erheblich voneinander, doch allesamt bieten sie aus einer Mikroperspektive heraus erhellende Einblicke in die Vielfalt und den Wandel des Großstadtlebens im Nordosten der Hauptstadt.

Archäologisches Projekt für die Zukunft

Und das vor dem Hintergrund, dass das zu DDR-Zeiten weitgehend von heruntergekommenen Altbauten geprägte Quartier sich zwar zu einer Hochburg der Subkultur entwickelt hatte, bis Anfang der 90er-Jahre zugleich aber stark von Arbeiter*innen und Rentner*innen geprägt wurde.

Zum Hintergrund: Von 1971 bis 1986 entstanden im Auftrag der Staatlichen Filmdokumentation (SFD) rund 300 Berichte über den Alltag in der DDR. Das Material war nicht für die Öffentlichkeit bestimmt, sondern wurde für zukünftige Generationen archiviert, um später einen unverstellten Blick auf eine sozialistische Gesellschaft im Aufbau zu ermöglichen. Man könnte auch von einem archäologischen Projekt für die Zukunft sprechen.

Staatliche Eigendokumentation des Sozialismus

Ziel der SFD war eine systematische Eigendokumentation des realsozialistischen Staates DDR, lassen die Initiatoren der „Prenzlauer Berginale“ wissen. Da das Benzin-Kontingent der SFD begrenzt war, entstanden die meisten Beiträge in den Berliner Bezirken Mitte und Prenzlauer Berg. So profan kann der Filmbetrieb sein! Fast vier Jahrzehnte schlummerten diese Arbeiten im Archiv. Erst seit Mitte der 2010er-Jahre werden die Filme im Rahmen eines Forschungsprojekt erschlossen und digitalisiert.

Das, was dem gesamten Konvolut nachgesagt wird, gilt auf jeden Fall für die Kurzfilme auf der DVD: Sie leben von einem ungeschönten Blick auf den Alltag, benennen (wirtschaftliche) Defizite und kommen nahezu ohne Propaganda aus.

Vorführung oft verwehrt

Der in allen Produktionen sichtbare dokumentarische Anspruch sorgte indes mitunter dafür, dass ihnen die Zulassung zur Vorführung verwehrt blieb, sie jahrelang eingelagert wurden und erst während des politischen Tauwetters im Herbst 1989 gezeigt werden konnten.

Das gilt etwa für die an sich harmlose Kurzdoku „Einmal in der Woche schreien“, die Jugendliche auf dem Weg zur Disko zeigt. Als aufrührerisch ließe sich allenfalls der Begleitsong interpretieren. So spiegelt das Schicksal von Günter Jordans Film aus dem Jahr 1982 wider, wie sehr die DDR-Offiziellen offenbar jeglichen Sinn für die Bedürfnisse und Wünsche insbesondere der Jugend verloren hatten.

Kleinkriminelle im Sozialismus

Weitaus mehr Sprengstoff könnte man  „Wozu denn über diese Leute einen Film“ attestieren. Thomas Heises Porträt von zwei jungen Kleinkriminellen bietet so ziemlich alles, was sich aus Sicht der Parteilinie nicht mit vorbildlichen Mitgliedern der „sozialistischen Gemeinschaft“ vereinbaren ließ.

Dass diese mit den Jahren ohnehin an Strahlkraft einbüßte, zeigt „Aschermittwoch“. Im Jahr 1989 schilderte Regisseur Lew Hohmann das Leben einer alleinerziehenden Mutter von sechs Kindern, die seit Kurzem wieder arbeitet, und zwar als Kassiererin in einer Kaufhalle. Die Fülle von Eindrücken, die in 19 Minuten und in den intensiven Schwarz-Weiß-Bildern gebündelt werden, entfacht einen regelrechten Sog.

Sehnsüchte und Widersprüche

Man erlebt das Verlorensein einer Frau in einem System, das behauptet, nur das Wohl der Werktätigen im Sinn zu haben und bekommt zugleich einen sinnlichen Eindruck von der Konsumwelt der späten DDR, von den Sehnsüchten und den Widersprüchen, mit denen viele Menschen lebten. In vielem von dem, was man hört und sieht, meint man zu erkennen, wie die bisherige Ordnung erodiert.

Lohnenswert sind all diese Filme, die so viele Perspektiven und Themen bieten, aber vor allem dann, wenn man sie nicht von einer bestimmten Warte aus betrachtet. Lieber sollte man sich auf das einlassen, was das Konzept dahinter war, nämlich auf einen unvoreingenommenen und nahezu ungefilterten Blick in die Vergangenheit, selbst wenn sich diese mitunter sehr gegenwärtig anfühl

Info:

„Prenzlauer Berginale – Kiezfilme 1965-2004“, mit Kurzfilmen von Lew Hohmann, Thorsten Heise, Jens Becker u.a.,  223 Minuten.

Auf DVD

Weitere Infos:

www.prenzlauerberginale.berlin

https://absolutmedien.de

2 Kommentare

Gespeichert von Barbara Rieck (nicht überprüft) am Do., 07.12.2023 - 11:17

Permalink

Hallo , mal jemand in meiner Facebook Gruppe möchte gern mal eine Umfrage starten zu einen Film.(hab’s kopiert und hier eingesetzt. Vielleicht können Sie uns etwas über diesen Film sagen.) Vielleicht kann ja hier in der Gruppe jemand haelfen. Vor ca 40 Jahren hab ich mal einen Film gesehen, den ich nirgends finde und den auch niemand kennt. Es ging um 2 Lehrlinge, die Dacharbeiten am Prenzlauer Berg machten und sich plötzlich geblendet fühlten. Von einem nahen Haus sendete ein bildschönes Mädchen mit einem Spiegel Signale an die Jungs. Einer der Beiden wollte sie unbedingt kennenlernen und sie suchten nach einer Möglichkeit dazu. So überlegten sie sich vorzugeben, eine Umfrage über Tierhaltung zu machen und klingelten in den infrage kommenden Wohnungen, bis sie tatsächlich auf den Vater des Mädchens stießen. Er führte die Jungs zu seiner Tochter - sie saß im Rollstuhl. Das tat der Begeisterung des jungen Verehrers aber keinerlei Abbruch und die Beiden kamen tatsächlich in Kontakt. Wenn ich nicht irre, spielte "Am Fenster" von City dazu als Filmmelodie. Da kann ich mich aber auch irren, ist schon zu lange her!

Hallo Frau Rieck,

das ist natürlich zugegebenermaßen eine sehr spezielle Fragestellung, aber unser Filmexperte in der Redaktion, der Kollege Nils Michaelis, hat versprochen, sich mal auf Spurensuche zu begeben.