Filmtipp „Kids Run“: Radikale Bilder von einer Familie am Limit
Es bedarf nur weniger Augenblicke, um zu merken, dass dieser Vater von drei Kindern komplett überfordert ist. Und dass ihn dieser chronische Stress fast zerreißt. Als Tagelöhner rackert sich Andi auf Baustellen ab, doch zum Leben reicht es vorne und hinten nicht. Die Wohnung ist womöglich bald futsch. Dort lebt er mit den halbwüchsigen Kindern Nikki und Ronny aus einer früheren Beziehung.
Regelmäßig hütet er auch Fiou. Das Mädchen im Babyalter entstand aus einer weiteren, noch nicht allzu lange vergangenen Liaison mit Sonja. In seiner Verzweiflung pumpt der aufbrausende Mann, der nicht weiß wohin mit seiner Energie und seinem Frust, seine Ex-Freundin an. Sonja setzt ihm die Pistole auf die Brust: Zahlt er die 5.000 Euro nicht binnen kurzer Zeit zurück, sieht er Fiou nie wieder. Jetzt steht Andi mehr denn je unter Druck. Und sein Kampf um seine Familie wird noch verzweifelter und verbissener.
Hier ist alles prekär
Ein junger Mann, um den herum alles zusammenbricht: In ihrem Langfilmdebüt nimmt Regisseurin und Drehbuchautorin Barbara Ott den Faden ihres viel beachteten Kurzfilms „Sunny“ von 2013 wieder auf. Ihr Film „Kids Run“, der im vergangenen Jahr bei der Berlinale gezeigt wurde und nun im Online-Kino startet, führt uns in eine Welt, vor der viele gerne die Augen verschließen. Es ist eine Welt, in der der Begriff „prekär“ nicht nur ein Beschäftigungsverhältnis umschreibt, sondern das komplette Dasein.
Und damit auch Andis Dasein. Wer weiß, wie lange er seinen Kindern noch ein Dach über dem Kopf bieten kann? Und wie lange sie überhaupt zusammenbleiben können? Um sich von den Schulden bei Sonja zu befreien (und auch, um seine Ex zurückzugewinnen) stellt sich Andi einer Herausforderung, die ihn einst beinah das Leben gekostet hätte: Er steigt wieder in den Boxring und hofft auf einen lukrativen Sieg.
Die Tristesse steckt voller Leben
Andi ist in dieser atmosphärisch dichten Geschichte nicht der Einzige, der buchstäblich am Rande der Gesellschaft lebt. Barbara Ott zieht alle Register, um ein Milieu von Menschen zum Leben zu erwecken, die immer wieder scheitern oder längst gescheitert sind. So rau wie die Sprache untereinander ist auch das Ambiente am Rande der Stadt, das in grau-trüben Farbtönen eingefangen wird. Wohnblocks, Schrottplätze, Fabrikanlagen sind ständige Begleiter, wenn der junge Vater mit seinen Kindern zu Fuß von Termin zu Termin hetzt.
Diese Tristesse steckt allerdings voller Leben, mitunter auch voller Hoffnung und Liebe. Andis chaotische Wanderung zwischen den Extremen und sein einsamer Kampf um seine Familie, aber auch um Anerkennung, entfacht einen Sog, dem man und frau sich schwer entziehen kann, selbst wenn einige Bilder – insbesondere aus dem Alltag der Kinder – nur mit Mühe zu ertragen sind.
Eine ungewöhnliche Vaterfigur
Barbara Ott hat „Kids Run“ allerdings nicht als klassische Sozialstudie angelegt. Wie Andi und sein Nachwuchs in diese missliche Lage geraten sind, bleibt unklar. Bei Andi, den nicht nur psychische Narben zeichnen, lassen sich die Gründe allerdings erahnen. Vor dem Hintergrund dieser Lücken in der Erzählung ist die Leistung von Hauptdarsteller Jannis Niewöhner („Narziss und Goldmund“) umso grandioser: So ein liebender und kämpferischer, aber auch unberechenbarer Vater, der mit seinen Kindern mitunter sehr schroff umgeht, war zumindest im deutschen Kino bislang nicht zu sehen.
Und damit wären wir auch beim eigentlichen Fokus des Ganzen. Kinder versorgen, um jeden Preis Geld für die Familie auftreiben, die Vereinbarkeit von Arbeit und Kindererziehung und letztendlich die Aufopferung für die Liebsten: Barbara Ott versieht den Protagonisten mit Intentionen und Herausforderungen, die ansonsten vor allem weiblichen Figuren zugeschrieben werden, wie die Regisseurin sagt.
Liebe ist keine Frage des Milieus
Für die 1983 geborene Filmemacherin geht es dabei um eine weitere Ebene: Sie will zeigen, dass und wie sich (auch) jene Menschen für eine sichere Zukunft aufreiben, denen diese Fähigkeit von bessergestellten Zeitgenoss*innen gerne abgesprochen wird. Und dass Liebe letztendlich keine Frage des Milieus ist, mag es – wie in diesem Film – auch noch so übermächtig, hoffnungs- und gnadenlos erscheinen. Dadurch unterstreicht sie, was Menschen aus verschiedenen Schichten eint.
Mitunter verblasst dieser Ansatz hinter der Handlung, die wenig Raum lässt für Reflexion. Dazu trägt auch das verwirrende Ende bei. Eine berührende Charakterstudie eines Vaters und einer Familie am Limit, die gerade auch in drastischen Momenten überzeugt, ist „Kids Run“ aber in jedem Fall.
Info: „Kids Run“ (Deutschland 2020), ein Film von Barbara Ott, Kamera: Falko Lachmund, mit Jannis Niewöhner, Lena Tronina, Eline Doenst, Giuseppe Bonvissuto u.a., 104 Minuten, ab 16 Jahre.
Im Online-Kino unter Beteiligung der Kinos
www.alleskino.de