Kultur

Filmtipp „Kabul Kinderheim“: Bollywood in Afghanistan

Auch Kinder des Krieges haben Träume: Vor dem Hintergrund der chaotischen Lage in Afghanistan Ende der 80er-Jahre erzählt das Drama „Kabul Kinderheim“ von Sehnsüchten und Solidarität. Und von der Macht des Kinos.
von ohne Autor · 5. November 2021
Flucht aus dem Alltag: Kinofan Qodrat träumt von einem besseren Leben.
Flucht aus dem Alltag: Kinofan Qodrat träumt von einem besseren Leben.

Das Kino ist immer auch ein Sehnsuchtsort. In andere, womöglich bessere Welten vorstoßen und den Alltag vergessen: Lichtspielhäuser machen es möglich. Viele Menschen nutzen diese Möglichkeit im Afghanistan der späten 80er-Jahre ausgiebig. Schon damals, lange Jahre vor der Machtübernahme durch die Taliban, ist die Realität in dem vom Krieg gezeichneten Land brutal, öde und perspektivlos. Schwülstige Bollywood- oder auch Karatefilme sind ein gefragtes Gegenmittel.

Auch Qodrat, die Hauptfigur in „Kabul Kinderheim“, geht am liebsten ins Kino. Doch eines Tages ist es damit vorbei. Der 15-Jährige ist nicht nur ein Filmfan, sondern auch ein Schlitzohr. Er wird bei einer kleinen Gaunerei erwischt und landet in einem von den sowjetischen Besatzern aufgebauten Kinderheim in Kabul.

Heroische Fantasien

Auch dort gibt er sich seinen von heroischen und fantasievollen Blockbustern gespeisten Träumen hin. Damit befindet sich der Halbwüchsige in bester Gesellschaft. Nur weg aus dem Heim, am besten auch aus Afghanistan: Danach sehnen sich auch die anderen Jungen, die während der Kämpfe zwischen sowjetischen Truppen und afghanischen Mudjahedinen ihre Eltern verloren haben. Derweil spitzt sich mit dem beginnenden Abzug der Sowjets die Lage in Afghanistan immer mehr zu.

Heutzutage wird oft von einem Afghanistan „vor den Taliban“ geredet. Regisseurin Shahrbanoo Sadat malt diese Zeit der größeren individuellen Freiheiten, insbesondere für Frauen, nicht als Idylle, macht die Unterschiede wohl aber in feinen Nuancen deutlich, und zwar immer aus dem Blickwinkel von Qodrat und anderen Heranwachsenden.

Manchmal werden Träume war

Das Kinderheim ist der Schmelztiegel einer entwurzelten Gesellschaft, die immer tiefer ins Chaos hineintaumelt. Es ist aber auch ein Ort, wo es neben Machtspielen unter Jugendlichen auch Freundschaft, Solidarität und sogar aufrichtige Zuwendung seitens der Pädagog*innen gibt. Der kriegerische Kontext außerhalb der von Uniformierten bewachten Anlage schwingt zunächst nur im Hintergrund mit.

Für Qodrat und seine Freude werden manchmal sogar Träume wahr: Die Reise der nach sowjetischer Art an der Schule gedrillten Pionierinnen und Pioniere nach Moskau sorgt für allgemeine Beflügelung. 

Nah an der Realität

Von den bollywoodtauglichen Traumbildern, in denen sich Qodrat und andere, ihm nahestehende Menschen in diesen seltenen Momenten der Euphorie immer wieder sieht, mal abgesehen: Was wir in diesem Kinodrama zu sehen bekommen, ist äußerst real. Die afghanischstämmige Regisseurin Shahrbanoo Sadat schafft in ihrem zweiten Spielfilm dafür einen ganz eigenen atmosphärischen Rahmen.

Die warmen, von reichlich Patina durchzogenen Braun- und Gelbtöne der Szenerie bieten eine gewisse Wärme, aber auch Düsternis. Der Lebenshunger, aber auch das Verlorensein der Heranwachsenden sind stets zu spüren. In dieser Coming-of-Age-Geschichte verändern sich nicht nur Qodrat und die anderen (ausschließlich männlichen) Heimbewohner, sondern auch ihr Land. Die Handlung reicht bis 1992, als Kabul erstmals von Gotteskriegern erobert wird. Ohne dass der ruhige Erzählfluss es verrät, wird die Kette der Ereignisse bis dorthin stark gerafft.

Shahrbanoo Sadat stützte sich für ihr Drehbuch auf das Tagebuch ihres Freundes Anwar Hashimi. „Er war ein Kind, das in einem Krieg steckte, der nicht sein Krieg war. Genauso fühle ich mich heute in Afghanistan“, sagte sie 2019, als der Film seine Premiere in Cannes feierte.

Die Taliban sind zurück

Mittlerweile sind die Taliban zurück an der Macht am Hindukusch. Der Filmemacherin gelang dank einer Berliner Solidaritätsaktion die Flucht nach Deutschland. Doch auch schon vor zwei oder drei Jahren wäre es für das vorwiegend weibliche Drehteam zu gefährlich gewesen, in Afghanistan zu drehen. Deswegen wurde die internationale Koproduktion mit Laiendarsteller*innen in Tadschikistan, Dänemark und Deutschland realisiert.

„Kabul Kinderheim“ ist bereits Sadats zweiter Film, der auf Hashimis Aufzeichnungen basiert. 2016 wurde sie bei den Filmfestspielen von Cannes für „Wolf and Sheep“ ausgezeichnet. Drei weitere sollen folgen.

Warnung, sich mit den Taliban einzulassen

Freilich bringt sie bei dieser Thematik auch persönliche Erfahrungen mit ein. 1990 kam Sadat in einem iranischen Flüchtlingslager zur Welt. 2001 ging sie mit ihrer Familie zurück nach Afghanistan. In Kabul machte sie ihre ersten Schritte in Richtung Film. Dorthin gibt es für sie vorerst kein Zurück. Derweil setzt sie sich für die Rechte der Frauen in dem Land ein und warnt auswärtige Politiker*innen davor, sich mit den Taliban einzulassen.

„Kinderheim Kabul“ setzt Krieg und Terror bis zur letzten Konsequenz die Kraft des Träumens entgegen. Es ist zugleich ein kraftvolles und auch humorvolles Bekenntnis zur Macht der Kunst, verordneten Dogmen eigene Realitäten entgegenzusetzen und letztlich der Menschlichkeit zum Durchbruch zu verhelfen.

Info: „Kabul Kinderheim“ (Dänemark, Deutschland, Frankreich, Luxemburg, Afghanistan, Katar 2019), ein Film von Shahrbanoo Sadat, OmU, 90 Minuten

https://wolfberlin.org/de/verleih

Im Kino

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