Filmtipp „Kabul, City in the Wind“: Ein anderer Blick auf Afghanistan
Wenn die Menschen am Stadtrand von Kabul den Friedhof der Märtyrer besuchen, nehmen sie gerne etwas Popcorn zu sich. Ein alter Mann verkauft es am Rande der Gräber der Opfer von Terror und Krieg. Diese sind mit den Porträts der Toten und afghanischen Flaggen geschmückt, die im Wind flattern.
Die Gewalt bleibt stets präsent
Ein Uniformierter, der seine beiden Söhne an diesen zugigen Ort gebracht hat, bietet ihnen eine Portion von dem Naschwerk an. Um an diesem für Außenstehende deprimierenden Ort - weil er die ganze Misere Afghanistans widerspiegelt - ein bisschen Freude zu spenden? Oder als Stärkung, um die Geschichten über die Verstorbenen und die Bilder im Kopf besser zu verkraften?
Die beiden Jungen spielen eine zentrale Rolle in dem Dokumentarfilm von Aboozar Amini. Der 1985 in Afghanistan geborene Filmemacher begleitete die Brüder Afshin und Benjamin durch den Alltag, um vom Leben in Afghanistan abseits von Kämpfen und Anschlägen zu berichten – also jenseits des herrschenden Blicks auf das Land. Und doch bleibt die Gewalt stets präsent, wenn auch im Hintergrund und durchaus auch in weniger gespenstischen Szenen als in jener auf dem Friedhof.
Auf Einkaufstour in Kabul
Weil Afshins Vater, ein Soldat, nach Kämpfen gegen die Taliban ins Ausland verschwinden muss, hat nun der älteste Sohn die Rolle des Familienoberhauptes einzunehmen. Das bedeutet: Einkäufe erledigen, zwei kleine Brüder hüten und das Haus an dem steinigen Hang in Schuss halten. Wenn der Zwölfjährige und der Sechsjährige zusammen auf Einkaufstour gehen, gewinnen wir intensive Eindrücke vom schillernden Leben auf Kabuls Straßen.
Nicht weniger intensiv ist es, Abbas, einen weiteren Protagonisten, auf seinen Wegen zu begleiten. Diese führen immer wieder zu einem Werkstatthof, der wie ein riesiger Schrottplatz anmutet. Dort steht sein kaputter Bus. Jeden Tag ist der 45-Jährige unterwegs, um Ersatzteile und Geld aufzutreiben, um die Monteure bei Laune zu halten.
„Von meinem Leben waren nur zehn Prozent friedlich“
Abbas braucht das klapprige Gefährt, um endlich wieder als Busfahrer arbeiten zu können. Derweil wachsen seine Schulden. Freude bereiten ihm seine Frau und Kinder, ein Lied auf den Lippen oder auch berauschende Rauchwaren. Doch immer wieder kommt er zu dem deprimierenden Schluss, weder für sich noch für sein Land eine Zukunft zu sehen. „Von meinem Leben waren nur zehn Prozent friedlich“, sagt er.
Amini nutzt die Geschichten von Abbas, Afshin und Benjamin, um begreifbar zu machen, was die Menschen in Kabul wie auch im Rest des Landes beschäftigt. Im ständigen Wechsel zwischen den beiden Erzählfäden wechselt der Blick auf die Dinge: Auf der einen Seite die Sicht von Heranwachsenden, die trotz all der Schwierigkeiten, mit denen sie großwerden, nicht den Glauben an die Zukunft verlieren. Auf der anderen Seite die Erwachsenen, die längst aufgegeben haben und sich arrangieren.
Den Menschen ganz nah
Meist filmt Amini die Menschen aus kurzer Distanz und kommt ihnen auch auf anderer Ebene sehr nahe. Vor der Kamera berichten der Mann und die beiden Kinder, wie sie ihre Erfahrungen und Sehnsüchte in Träumen verarbeiten. Diese Selbstanalysen sind in der Summe ebenso erschütternd wie überraschend. Immer wieder wird die Perspektive geweitet, zumindest optisch. Schließlich geht es Amini darum, die Alltagsszenen und Erzählungen als Teil eines schwer auf einen Nenner zu bringenden großen Ganzen zu präsentieren.
Ebenso diffus präsentiert sich Kabul, wenn die Kamera vom Hang ins Tal fährt und das bräunliche Häusermeer im grellen Sommerlicht zu einer einzigen, von grimmigen Berghängen umgebenen und von einem grauen Schleier umhüllten Masse wird. Die subtile Montage unterstreicht die Kontraste zwischen nahem und fernem Blickwinkel, zwischen Unmittelbarkeit und Poesie, wie auch die besondere Kraft vieler Aufnahmen an sich.
Gefährliche Dreharbeiten
Aminis Film entstand 2018, also drei Jahre vor der Rückkehr der radikalislamischen Taliban-Kämpfer an die Macht. Doch schon damals waren die Dreharbeiten mit großen Gefahren verbunden. Der Regisseur reiste mehrfach mit einem Kleinstteam an den Hindukusch und drehte selbst. Diese minimalistische Vorgehensweise habe den Zugang zu den Menschen erleichtert, berichtet er.
Vieles von dem, was Amini zeigt, hat mit seiner Biografie zu tun. Auch wenn er Kabul kaum wiedererkannt hat, als er nach 20 Jahren dorthin zurückkehrte. Ende der 90er-Jahre hatte er als Teenager das Land in Richtung Europa verlassen. Sein Blick auf Kabul zeugt von Vertrautheit, aber auch von dem Anspruch, bislang nicht Gesehenes ans Tageslicht zu bringen, um das „große Chaos“ zu entwirren. Aminis Sichtweise ist illusionslos, unterstreicht zugleich aber auch die Kraft des Lebens an einem Schauplatz, den viele mit Tod und Elend verbinden. Es lohnt sich, sich auf diese Sicht auf Afghanistan einzulassen.
Info: „Kabul, City In The Wind“ (Niederlande 2018), Buch, Regie, Kamera: Aboozar Amini, Schnitt: Barbara Hin, 88 Minuten, OmU.
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