Filmtipp „Herr Bachmann und seine Klasse“: Schule mal ganz anders
Am letzten Tag vor den Sommerferien schlägt an der Georg-Büchner-Gesamtschule in Stadtallendorf bei Marburg die Stunde der Wahrheit. Es gibt Zeugnisse! Dieter Bachmann entlässt die Schüler*innen seiner Klasse mit Worten, die sich viele Schulkinder wünschen (und die sich viele ehemalige Schulkinder gewünscht hätten): „Diese Noten zeigen überhaupt nichts von euch! Das sind nur Momentaufnahmen von eigentlich ziemlich nebensächlichen Dingen wie Mathematik und Englisch lernen.“
In diesen Abschiedsworten mag etwas Koketterie liegen, doch sie bringen die Grundhaltung dieses unkonventionellen Lehrers mit Vorliebe für Wollmützen, Kapuzenpullis und harte Rocksounds auf den Punkt: Kindern den Glauben an sich selbst vermitteln und auf ihre individuellen wie kulturellen Eigenheiten eingehen. Ihnen mit Empathie und ohne Vorurteile begegnen. Und auch durchaus mal Dinge infrage stellen. In der Praxis ist dies immer wieder eine Herausforderung. Fast alle dieser Zwölf- bis 14-Jährigen haben eine Migrationsgeschichte. Viele sprechen schlecht Deutsch und leben in prekären Verhältnissen: leider keine idealen Voraussetzungen für eine erfolgreiche Bildungskarriere in diesem Land. Doch Maria Speths Dokumentarfilm zeigt, dass es keinen Grund gibt, Heranwachsende deswegen abzuschreiben.
Musik schafft neue Zugänge
Vor allem dann nicht, wenn es Lehrer*innen gibt, die sich ungewöhnliche Wege zutrauen. „Ilknur, geh doch schon mal zum Keyboard.“ Solche Sätze fallen in Bachmanns Unterricht häufiger. In Fächern wie Deutsch oder Englisch wird der Stoff durch gemeinsames Singen und Jammen ergänzt, das schafft andere Zugänge zu abstrakten Themen und stiftet Gemeinschaft. Die Musik ist eine allgegenwärtige Sprache. Unabhängig davon herrschen in dem mit Instrumenten vollgestopften Klassenzimmer, das eher an ein Wohnzimmer erinnert, klare Regeln.
„Herr Bachmann und seine Klasse“ zeigt die Kinder und ihren Lehrer am Scheideweg. Die Zeugnisausgabe verfolgen wir an ihrem letzten gemeinsamen Tag. Nach den Ferien werden die Mädchen und Jungen, die zuvor einem Klassenverband angehörten, auf die weiterführenden Schulzweige verteilt. In den Monaten davor schwingt dieser Prozess des „Aussiebens“ immer wieder mit. Bachmann bereitet sich währenddessen auf einen weiteren Abschied vor: Nach 17 Jahren als Klassenlehrer steht die Pensionierung des bald 65-Jährigen bevor. Früher verdingte er sich als Bildhauer und Folkmusiker. Trotz seines Einsatzes für die Kinder hadert er immer wieder mit dem Lehrerdasein.
Regisseurin, Co-Autorin, Cutterin sowie Produzentin Maria Speth bietet intime und überraschende Einblicke in den Alltag einer sogenannten Brennpunktschule. Das gilt besonders für die Interaktion zwischen Bachmann und seiner Klasse. Die Lebensverhältnisse der Kinder werden mal mehr, mal weniger greifbar. Und es wird klar, dass Bachmann bei aller Leidenschaft für ungewöhnliche Pfade am Ende eben doch ein Teil des Systems ist – und nicht etwa so eine Art Zauberer.
Eine Schulklasse als Spiegelbild der Gesellschaft
Auch die Umgebung dieses Schulstandortes wird beleuchtet. Wer vom Hügel auf die Stadt blickt, sieht rauchende Schlote und ein paar Fachwerkhäuser. Mit der größten Sprengstofffabrik Europas jazzten die Nazis das Bauerndorf Allendorf zum Industriestandort mit angebauter Stadt hoch. Menschen kamen (oder wurden dazu gezwungen), um zu arbeiten. Das blieb auch nach dem Zweiten Weltkrieg so. Heute leben Menschen aus 70 Nationen in der Kommune mit etwas mehr als 21.000 Einwohner*innen. Bachmanns Klasse spiegelt die Gesellschaft dieser mittelhessischen Kleinstadt wider. Dieser Verbindung geht der Film allerdings kaum nach und belässt es bei einem Exkurs zu den Spuren der NS-Zwangsarbeit.
Speth nimmt sich sehr viel Zeit, um von dem Geschehen im Klassenzimmer zu erzählen. Lange Einstellungen fangen Situationen aus dem Unterricht, aus Elterngesprächen und auf Ausflügen ein. Das schafft Raum und Zeit für intensive Eindrücke und überraschende Wendungen, in denen der volle Einsatz des Klassenlehrers gefragt ist. Dinge und Menschen sprechen für sich, einen Off-Kommentar gibt es nicht, Auflockerungen sind rar. Angesichts einer Länge von mehr als dreieinhalb Stunden verlangt diese streng dokumentarisch gehaltene und wohl auch als „mutig“ zu bezeichnende Produktion den Zuschauenden einiges ab. Bei der Berlinale gab es dafür den Preis der Jury und beim Berlinale Summer Special den Publikums-Preis für den besten Wettbewerbsfilm.
Info: „Herr Bachmann und seine Klasse“ (Deutschland 2021), ein Film von Maria Speth, Kamera: Reinhold Vorschneider, mit Dieter Bachmann, Aynur Bal, Schüler*innen der Klassen 6 b und 6 f u.a., 217 Minuten
https://grandfilm.de/herr-bachmann-und-seine-klasse/
Kinostart: 16. September