Kultur

Filmtipp „A Gschicht über d' Lieb“: Geschwisterliebe auf dem Land in den 50ern

Ein trotziges Geschwisterpaar begehrt gegen Traditionen auf: Anhand eines Dorfes porträtiert „A Gschicht über d' Lieb“ den moralischen Zustand der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft.
von ohne Autor · 30. August 2019
Zwei gegen alle: Maria (Svenja Jung) und Gregor (Merlin Rose)
Zwei gegen alle: Maria (Svenja Jung) und Gregor (Merlin Rose)

Einst bestimmte vor allem das Spiel der Jahreszeiten das Landleben in Deutschland. Für eine erfolgreiche Ernte kam es aber auch darauf an, das während der Feldarbeit alle an einem Strang ziehen. Zu Beginn des Films sehen wir eine Gruppe von Dorfbewohnern, die mit ihren Heugabeln in synchronen, seit Generationen eingeübten Schwingbewegungen das getrocknete Gras auf den Anhänger schaufeln. Ein scheinbar ewig gültiges Bild, würde nicht nach dem Schnitt folgendes ins Auge stechen: Am Steuer des Treckers sitzt nicht etwa der Bauer, sondern dessen Tochter. Sozusagen ein revolutionärer Akt.

Risse im scheinbar festgefügten Bild

Bereits diese frühe Szene zeigt, dass in dieser scheinbaren Dorfidylle im Schwaben der 1950er-Jahre einiges in Bewegung geraten ist. Althergebrachte Traditionen und Werte sind allgegenwärtig, doch das scheinbar festgefügte Bild zeigt Risse. Das gilt besonders für die Bauernfamilie Bacher. Der verwitwete Vater will den Hof endlich an den Sohn übergeben und besagteTochter mit dem Sohn des Dorfpatriarchen verheiraten, um den Wohlstand der Familie zu mehren. Doch die beiden denken überhaupt nicht daran, diesen vorgefertigten Bahnen zu folgen.

Gregor will unbedingt eine Autowerkstatt mit Tankstelle betreiben. Und Maria bliebt lieber unverheiratet, als eine arrangierte Ehe einzugehen. Hinzu kommt, dass die beiden Mittzwanziger Gefühle füreinander haben, deren ganze Tragweite sich erst im Fortlauf der Handlung offenbart. Vor diesem Hintergrund entfaltet der Umstand, dass die Geschwister gegen Gewohntes aufbegehren und den Bruch mit dem Vater, wenn nicht gar mit dem ganzen Dorf, riskieren, eine unkalkulierbare, letztlich fatale Dynamik.

Reichlich Lokalkolorit Württembergs

Anders als vom Verleih kundgetan, hat „A Gschicht über d' Lieb“ wenig mit einem Mix aus Heimatfilm und Melodram zu tun. Jedenfalls dann, wenn man „Heimatfilm“ mit der Kitschwelt der Landleben-Schmonzetten der frühen Nachkriegszeit assoziiert. Zwar wird während der in einem Freilandmuseum bei Schwäbisch Hall entstandenen Außenszenen reichlich Lokalkolorit geboten. Beispielsweise sprechen alle Darsteller einen an württembergischer Mundart angelehnten Dialekt.

Doch idyllisch ist hier gar nichts, selbst wenn das Setting durchaus von einer ganz eigenen Schönheit ist. Stets ist eine unterschwellige Spannung zu spüren. Diese speist sich aus dem heraufziehenden Generationenkonflikt und der nachlassenden Bindungskraft dieser alten Welt. Längst warten neue Verheißungen am Horizont. Und sei es die Bundesstraße, die bald am Ortsrand vorbeiführen und neuen Wohlstand jenseits harter Feldarbeit bringen soll.

Dorfgemeinschaft steht Kopf

Inmitten all dieser Konfliktlinien und Bruchstellen befinden sich Maria und Gregor. Ungewollt setzen die beiden Sonderlinge, die letztendlich nur nach einem Platz im Leben beziehungsweise einen Platz für ihr Leben suchen, eine Prozess in Gang, der in Gewaltexzessen gipfelt und die Dorfgemeinschaft inklusive ihrer moralischen Eckpfeiler auf den Kopf stellt. 

Im Grunde genommen ging es Regisseur und Drehbuchautor Peter Evers darum, einen Film über die Liebe zu drehen. Über die Liebe als einen blinden Trieb, der immer wieder mit den gesellschaftlichen Normen kollidiert. Geschwisterliebe bietet besonders viel Konfliktstoff, wenngleich dieses Drama nicht als Plädoyer für Inzest zu verstehen ist. Vielmehr geht es um die Frage, was es bedeutet, wenn man nicht denjenigen lieben darf oder lieben kann, den man liebt. Gregor und Maria mögen ein extremes Beispiel liefern, doch mit dem Problem an sich sind sie nicht allein.

Geist der Adenauer-Zeit

All diese moralischen Zwänge weisen überdies weit über den dörflichen Rahmen hinaus, wenngleich sie in diesem übersichtlichen Kontext besonders deutlich hervortreten. Sie spiegeln den Geist der Adenauer-Zeit wider: Nach NS-Terror und Kriegszerstörung waren konservative Kreise bemüht, die „gute alte Zeit“ wieder aufleben zu lassen und klassische Institutionen wie Kirche und Familie zu neuem Glanz zu verhelfen. Die Verbrechen und Traumata der jüngeren Zeit fanden in dieser Scheinwelt keinen Platz. Und doch sollten sie immer wieder das von einer merkwürdigen Empathielosigkeit erfüllte Zusammenleben erschüttern. Auch davon erzählt dieser Film.

Für sein Drehbuch wurde Peter Evers bei der Berlinale mit dem Thomas-Strittmatter-Preis ausgezeichnet. In der Tat beeindruckt der dramaturgische Zugriff: Der Spannungspegel bleibt permanent weit oben, ohne dass die Figuren und Situationen in einen unaufhaltsam Richtung Abgrund treibenden Plot hineingezwungen werden. Jede Szene atmet gewissermaßen auf ihre Art, besitzt mitunter einen ganz eigenen Zauber. Das liegt auch an der hervorragenden Besetzung, wobei besonders die beiden Hauptdarsteller Svenja Jung und Merlin Rose von bleibender Wirkung sind.

Info: „A Gschicht über d' Lieb“ (Deutschland 2018), ein Film von Peter Evers, mit Svenja Jung Merlin Rose, Thomas Sarbacher Eleonore Weisgerber u.a., 97 Minuten.

Kinostart: 29. August

 

 

 

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