Kultur

Filmtipp „Gloria Mundi“: Die Mittelschicht am Abgrund

Der Druck kommt von allen Seiten: Anhand einer Familie erzählt das französische Drama „Gloria Mundi“ von den Nöten der Mittelschicht in Zeiten des Turbokapitalismus. Eine Hommage an vergessene Werte, die Metropole Marseille und große Kinotraditionen.
von ohne Autor · 14. Januar 2022
Kaum auf der Welt und schon mittendrin in einem fordernden Alltag: die neugeborene Gloria im Kreis der Famile.
Kaum auf der Welt und schon mittendrin in einem fordernden Alltag: die neugeborene Gloria im Kreis der Famile.

Wenn ein Kind auf die Welt kommt, wird die Tür zu einem neuen Leben aufgestoßen. Mitunter auch für die, die schon viel länger auf der Welt sind. Zumindest haben einige Erwachsene diese Hoffnung. So auch die Eltern der kleinen Gloria. Doch schon kurz nach ihrer Geburt ist überdeutlich, dass gravierende Probleme die Freude der Familie überschatten. Und die Schwierigkeiten werden im weiteren Verlauf nicht weniger.

„Gloria Mundi“ erzählt davon, wie die Mittelschicht in Zeiten von globalisiertem Turbokapitalismus und fortschreitender Entsolidarisierung unter Druck – und manchmal auch unter die Räder – gerät. Schauplatz der Geschichte ist Marseille. Glorias Eltern und Großeltern kommen gerade so über die Runden. Doch wie lange noch?

Mittelschicht unter Druck

Ihre Mutter Mathilda jobbt in einem Bekleidungsladen und steht kurz vor dem Rauswurf. Nicolas, der Vater, schlägt sich als Fahrer eines Online-Fahrdienstes durch. Oma Sylvie putzt nachts in Krankenhäusern und auf Kreuzfahrtschiffen. Opa Richard ist Busfahrer bei den Verkehrsbetrieben, also fast schon eine Art Stabilitätsanker.

Tante Aurore und Onkel Bruno haben sich dem Aufstieg verschrieben. Das von einem wahnhaften Ehrgeiz zerfressene Paar betreibt einen Laden mit fragwürdigem Geschäftsmodell: Dinge von verarmten Mitbürger*innen billig ankaufen und teuer verkaufen. Der Name des Geschäfts: „Tout Cash“ („Alles Bargeld“).

Ein Damoklesschwert: Es geht ums Geld

Ein Name, der alles sagt: Geld, und möglichst viel davon, als gesellschaftlicher Wert. Aber auch als unverzichtbares Mittel, um zumindest materiell zu existieren. So sieht (nicht nur) hier die Realität aus. Über vielen Menschen aus Glorias zunächst überglücklicher Familie schwebt zudem gleich einem Damoklesschwert die Gefahr, plötzlich ohne Geld dazustehen.

Jeder hat zumindest für den Moment seine Aufgabe und seinen Platz. Doch dieses Gebilde ist äußerst fragil. Die Eltern der Neugeborenen müssen erfahren, wie ein unvorhergesehener Vorfall sie auf dem Pfad hin zu einem besseren Auskommen völlig zurückwirft. Das junge Paar wähnt sich am Ende. Was tun?

Neue Impulse bringt die Rückkehr von Mathildas leiblichem Vater. Lange bleibt unklar, ob sie gut oder schlecht ist. Viele Jahre saß Daniel am anderen Ende Frankreichs im Gefängnis. Mit ihm kehrt auch die Erinnerung an vergangene Zeiten zurück, die einige – vor allem Sylvie – zumindest in mancher Hinsicht als besser empfinden. Solidarität und der Aufbruch in eine gerechte und freie Welt: Von all dem ist wenig geblieben.

Präzises Porträt einer Familie

„Gloria Mundi“ ist ein ebenso präzises wie emotionales Porträt einer Familie am Abgrund, der niemals die Hoffnung und die Lust aufs Leben ausgeht. Und auch nicht eine mitunter derbe Erotik. Dementsprechend sind die Farben, in die Regisseur Robert Guédiguian seine Heimatstadt Marseille taucht, niemals nur grau und düster, sondern meistens auch warm, mitunter sogar leuchtend.

Schlaglichter der Armut in den tristen Vorstädten und Szenen vor der Kulisse ikonografischer Hotspots wie der Kathedrale Notre Dame de la Garde ergeben ein schillerndes Kaleidoskop der Metropole, in der die meisten Filme von Guédiguian entstanden. Der den Babywagen schiebende Daniel wird eins mit der Stadtlandschaft, dem Ort seiner Sehnsüchte. Dieser gemächliche, aber intensive Bilder- und Erzählfluss knüpft an die Traditionen des französischen Kinos der 70er-Jahre an. Kein Wunder, dass einige Zuschauende bei solchen Szenen nostalgisch werden.

Ein Rest Hoffnung bleibt

Lassen sich die Träume und Ideale aus der Zeit der gesellschaftlichen Öffnung in Frankreich ab dem Jahr 1968 wiederbeleben? Können wir die ökonomisierte Gegenwart zum Besseren wenden? Zumindest ein Hauch von Hoffnung ist in diesem Film zu spüren, selbst wenn sein Titel dem lateinischen Ausspruch „Sic transit gloria mundi“ („So vergeht der Ruhm der Welt“) entlehnt ist. Das gilt auch für die Hoffnung, dass Gloria eines Tages weniger Kämpfe zu führen haben wird.

Vor allem die von Ariane Ascaride (für diese Rolle bei den Filmfestspielen von Venedig als beste Hauptdarstellerin ausgezeichnet) verkörperte Sylvie erweckt diese Hoffnung zum Leben. Zugleich macht sie deutlich, wie schwierig es heutzutage gerade unter prekär Beschäftigten ist, Solidarität auch tatsächlich zu leben. Aber auch innerhalb der spröden Familienbeziehungen ist sie kein selbstverständliches Gut.

„Gloria Mundi“ löst all die Verwicklungen, die diese Familie immer wieder an die Grenzen führen, nicht auf. Das etwas wirre, aber verblüffende Ende deutet zumindest an, wie der Weg hin zu einem besseren Leben aussehen könnte. Und es wird klar, dass nicht alles, was vergangen ist, wiederbelebt werden kann.

Info: „Gloria Mundi – Rückehr nach Marseille“ (Frankreich/Italien 2019), ein Film von Robert Guédiguian, mit Ariane Ascaride, Jean-Pierre Darroussin, Gérard Meylan, Anaïs Demoustier u.a., 107 Minuten.

Jetzt im Kino

http://www.filmkinotext.de/gloria-mundi.html

0 Kommentare
Noch keine Kommentare