Filmtipp „Gleis 11“: Die unerzählten Geschichten der „Gastarbeiter“
26 Prozent der Deutschen haben eine sogenannte Migrationsgeschichte. Viele dieser Geschichten begannen vor gut 60 Jahren mit der Anwerbung von Arbeitskräften aus der Türkei, Italien, Jugoslawien, Griechenland und anderen Ländern durch die Bundesregierung. Es ist kaum zu ermessen, wie sehr dieser Prozess die Bundesrepublik Deutschland verändert hat. Fakt ist: Die Arbeitsmigration hat Deutschland vielfältiger gemacht.
Das vorherrschende öffentliche Bild von diesem Prozess ist auch Jahrzehnte später merkwürdig abstrakt. Es gab Spielfilme wie Rainer Werner Fassbinders „Angst essen Seele auf“ oder „Almanya“ von Yasemin Şamdereli. Und doch haben die Geschichten der – tatsächlich ausschließlich in der männlichen Form – als „Gastarbeiter“ titulierten Zuwander*innen bislang kaum Eingang ins kollektive und auch künstlerische Gedächtnis dieses Landes gefunden. Das ist verwunderlich. Viele dieser Lebenswege bieten klassische Zutaten für das ganz große Drama: zum Beispiel Hoffnung, Enttäuschung, Glück und Scheitern. Aber auch Komisches und Absurdes findet darin Platz.
Rückkehr nach Griechenland nur im Urlaub
Das zeigen die Geschichten, die uns Çagdaş Yüksel in seinem neuen Film präsentiert. Als Marina Pappa mit dem Zug von Thessaloniki nach Deutschland reiste, wusste sie nicht, was sie mit der Banane im Lunchpaket anfangen soll. Einfach nur hineinbeißen? Oder lieber schälen? In ihrem griechischen Bergdorf waren die gelben Früchte unbekannt. Die Anekdote war nur der Auftakt für eine Reihe von neuen, nicht immer einfachen Entdeckungen und Erfahrungen, nachdem sie ihre Stelle im Industrierevier zwischen Rhein und Ruhr angetreten hatte. Nach Griechenland kehrte sie nur im Sommerurlaub zurück.
Mit „Gleis 11“ gibt Yüksel den Menschen eine Stimme, die bislang kaum oder gar nicht gehört wurden. Mit Arbeitsmigranten der ersten Stunde sprach der 26-Jährige darüber, wie es war, sich in einer fremden Umgebung und ohne Sprachkenntnisse eine neue Existenz aufzubauen. Bleiben oder gehen? Darum kreisten ihre Gedanken, als die Frauen und Männer in Westdeutschland Fuß gefasst hatten. Manche von ihnen beschäftigt dieses Für und Wider bis heute.
Fragen an eine bewegte Zeit
Thema, Intention und Titel des Films sind eng mit Yüksels Familiengeschichte verknüpft. Der Regisseur und Produzent wurde in Mönchengladbach geboren, sein Großvater kam 1966 von der Türkei nach Deutschland. Wie so viele andere „Gastarbeiter“ betrat er an Gleis 11 des Münchener Hauptbahnhofs zum ersten Mal deutschen Boden. Von dort wurden die Menschen weitergeleitet, die meisten nach Nordrhein-Westfalen. So auch der Opa. Frau und Kinder kam wenige Jahre später nach
Yüksel hatte viele Fragen an diese Zeit. Seinem Großvater konnte er sie nicht mehr stellen, er starb lange Zeit vor der Geburt des Enkels. So kam die Idee, den Kreis zu erweitern. Kreuz und quer reiste er durch NRW und setzte sich bei Frauen und Männern ins Wohnzimmer, die ebenfalls jener „ersten Generation“ angehören. Manche berichten von „guten und schlechten Zeiten“. Immer wieder zeigen sie ihren Stolz auf das, was sie erreicht haben. Und auch ihre Verbundenheit mit einem seinerzeit wenig einladenden Land, dass ihr neues Zuhause wurde.
Der Film bricht mit dem „Gastarbeiter“-Klischee
Viele der privaten, scheinbar harmlosen Details geben interessante Einblicke in ihren Alltag. Auch Yüksels Großmutter, die als junge Witwe acht Kinder zu versorgen hatte, kommt ausführlich zu Wort. Überhaupt bricht der Film mit dem „Gastarbeiter“-Klischee, indem die Perspektive der ebenfalls als Werktätige eingewanderten Frauen breiten Raum einnimmt.
Biografische Details zu allen Protagonist*innen und andere einordnende Elemente würden helfen, der Erzählung, die immer wieder zu den besagten Großeltern zurückkehrt, zu folgen und die Selbstzeugnisse anschaulich zu machen. Yüksel hat darauf bewusst verzichtet. Mit seinem denkbar subjektiven Weg bezweckt er, dass wir uns diesen Menschen möglichst unvoreingenommen zuwenden, also ohne fertige Bilder im Kopf. Außerdem wollte er den Gesprächspartner*innen möglichst viel Raum bieten.
Endlich zuhören
Auch daran zeigt sich, dass der Film, der als Crowdfunding-Projekt startete und als Auftragsproduktion für das NRW-Ministerium für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration endete, nicht den Anspruch eines dokumentarischen Rundumschlags zum Thema „Gastarbeiter“ hat. Ebenso wenig geht es um eindeutige gesellschaftspolitische Forderungen. Bis auf den Appell, den „Gastarbeitern“ endlich zuzuhören.
Augenscheinlich sind aber die Nostalgie und das Herzblut, die Yüksel bei der jahrelangen Arbeit an dem Projekt antrieben. Satte Streicher- und Pianoklänge lassen das Ganze mitunter ins Pathetische abdriften. Insgesamt jedoch nimmt uns der Film mit seiner Unmittelbarkeit ein. Die Fragen und Denkanstöße, die oft beiläufig formuliert werden, sind aktueller denn je.
Info: „Gleis 11“ (Deutschland 2021), ein Film von Cagdas Yüksel, 67 Minuten
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