Kultur

Filmtipp „Gegen den Strom“: Der nette Revoluzzer von nebenan

Ein gesuchter Terrorist aus Deutschland und sein neues Leben in Venezuela: Der Dokumentarfilm „Gegen den Strom“ erzählt davon, was es bedeutet, jahrelang auf der Flucht zu sein. Und es geht um die Frage: Was ist heutzutage eigentlich ein „Linker“?
von ohne Autor · 21. Mai 2021
Brüder im revolutionären Geiste: Thomas Walter (links) und Mal Élevé (rechts)
Brüder im revolutionären Geiste: Thomas Walter (links) und Mal Élevé (rechts)

Vor vielen Jahren muss in Thomas Walter viel Wut geherrscht haben. Und wohl auch Übermut. Er oder sie muss dem Dokumentarfilm allerdings eine Weile folgen, um sich das vorstellen zu können. Auf den ersten Blick wirkt der Mann mit den grauen Wuschelhaaren, dem bedruckten T-Shirt und der abgewetzten Arbeitshose wie der nette, in sich ruhende Biobauer von nebenan.

Die deutschen Sicherheitsbehörden haben ein völlig anderes Bild von dem mutmaßlichen Endfünfziger. Sie sehen in Thomas Walter einen „Links-Terroristen.“ Das ist der Grund, warum er seit geraumer Zeit in den Bergen Venezuelas lebt. Und somit auch der Ursprung für Sobo Swobodniks Film.

Anschlag auf eine Bundeswehrkaserne

Dieses von einer korrupten und als sozialistisch vermarkteten Clique geschundene Land erlebt schon viele Jahre lang einen dramatischen Niedergang. Wer in diesem System eine linke Utopie entdeckt, muss sehr viel Fantasie haben. Thomas Walter hat seinen Lebensort allerdings nicht allein unter ideologischen Gesichtspunkten ausgewählt.

In den 1990er-Jahren gehörte er zum „K.O.M.I.T.T.E.E.“. Die Untergrundorganisation verübte einen Brandanschlag auf eine Bundeswehrkaserne in Brandenburg und soll versucht haben, ein Berliner Abschiebegefängnis zu sprengen. Thomas Walter gehörte dazu. Mit einigen Mitstreiter*innen tauchte er unter, reiste durch mehrere Länder.

Politisches Asyl in Venezuela

2017 tauchte er aus der Illegalität auf und beantragte politisches Asyl in Venezuela. Dort – anders als in Deutschland – gelten die Straftaten, die ihm und den anderen zur Last gelegt werden, als verjährt. Rund 25 Jahre auf der Flucht: Was macht das mit einem Menschen? Was ist vom revolutionären Geist geblieben? Und was bedeutet es heute, links zu sein? Um diese und andere Fragen dreht sich „Gegen den Strom“. Wer sich Erkenntnisse über die gewalttätigen Aktionen von damals oder Details zu den Umständen des Abtauchens erhofft, wird enttäuscht.

Fünf Wochen lang begleitete Sobo Swobodnik seinen Protagonisten durch den Alltag im ländlichen Venezuela. Rein visuell bieten die Szenen an grünen Berghängen mit der Illusion von intakter Ursprünglichkeit einen interessanten Kontrast zu den Bildern aus der völlig maroden Stadtlandschaft. Im Garten und am Küchentisch von Thomas Walter lässt sich die Agonie dieses Landes nahezu ausblenden. Wenn nicht gerade wieder der Strom ausfällt.

Keine Illusionen über Venezuela

Der – wenn man so will – Exilant macht immer wieder deutlich, wie desillusioniert er auf seine neue Heimat blickt. Was allerdings nicht bedeutet,  dass er seinen Idealen abgeschworen hat. Der Regisseur fühlt ihm in dieser Hinsicht immer wieder auf den Zahn. Die Offenheit und Ungezwungenheit seines Gesprächspartners beeindruckt, wenngleich sie durch familiäre Bande begünstigt wird.

Andererseits sind sich beide Männer für die Dreharbeiten zum ersten Mal überhaupt begegnet. Dass der Filmemacher nicht unbedingt jede Nuance des politischen Weltbildes der Hauptperson teilt, wohl aber deren Entschlossenheit bewundert, dafür einen wenig komfortablen Lebensweg auf sich genommen zu haben, dürfte die Annäherung erleichtert haben. Dass ein konspiratives Leben viele Entbehrungen, gerade in zwischenmenschlicher Hinsicht, mit sich bringt, daran lassen Thomas Walters Einlassungen keinen Zweifel.

Der Kampf geht weiter

Richtig Fahrt nimmt der Film vor allem dann auf, wenn wir daran teilhaben, wie der Protagonist den Kampf von einst mit anderen Mitteln führt. Heute wie damals geht es gegen staatliche Repression und Ausbeutung jeglicher Art. Und gegenwärtig vor allem auch gegen Europas Kurs gegenüber Geflüchteten. Allerdings auf friedliche Weise.

Dafür hat sich Thomas Walter mit dem Berliner Musiker Mal Élevé („Die Revolution geht weiter!“) zusammengetan, zunächst rein virtuell. In Venezuela feilen die beiden an den in mehrfacher Hinsicht sehr engagierten Songs für ihr transatlantisches Musikprojekt und gehen gemeinsam ins Studio. Beide genießen das kreative und freundschaftliche Miteinander sichtlich. Man ahnt, was es für den wesentlich Älteren von ihnen bedeutet haben muss, jahrelang darauf zu verzichten.

Den Menschen zum Vorschein bringen

Es wäre unfair, „Gegen den Strom“ Verklärung vorzuhalten. Letztendlich geht es darum, den Menschen Thomas Walter zum Vorschein zu bringen. Einige Aspekte, etwa die Gewaltfrage, bieten Spielraum für Interpretationen. Und doch werden intensive Einblicke in die sinnliche und geistige Welt der Hauptperson geboten. Dass diese erst wieder lernen musste, offen und ehrlich über sich zu sprechen, ist Teil dieser Geschichte und das Ergebnis keineswegs selbstverständlich. Wie auch die lebensbejahende Stimmung, die „Gegen den Strom“ hinterlässt.

Info: „Gegen den Strom – abgetaucht in Venezuela“ (Deutschland 2019), ein Film von Sobo Swobodnik, mit Thomas Walter, Mal

 

Élevé u.a., 84 Minuten.

Jetzt auf DVD erschienen
Erhältlich unter https://www.partisan-filmverleih.de/dvd-bestellung/

und im Buchhandel
 

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